SPURLOS VERSCHWUNDEN


Kurze Anmerkungen zum Roman „Das Mädchen und der Träumer“ von Dacia Maraini, der im Folio Verlag erschienen ist

Mailand – Nani Speranza, Grundschullehrer in einer norditalienischen Kleinstadtsiedlung, träumt von einem Mädchen im roten Mantel, dem er auf dem Weg zur Schule hinterher geht. Er hält das Kind zunächst für seine kurz zuvor an Leukämie verstorbenen Tochter. Doch dann merkt er enttäuscht, dass er sich geirrt hat – und wacht auf. Als er dann am Morgen im Radio von der Schülerin Lucia aus seiner Nachbarschaft hört, die vermisst wird, fragt er sich, ob nicht vielleicht sie es war, die er im Traum gesehen hat. Und will mehr über sie wissen. Lucia bleibt jedoch spurlos verschwunden. Wochen später schreibt die Polizei den Fall ab, es bestehe keine Hoffnung mehr, das Mädchen noch lebend zu finden. Der Lehrer gibt jedoch nicht auf, obgleich er sich mit seiner hartnäckigen Suche nach Lucia, von der er immer wieder träumt, bei den Behörden, den Bewohner der Siedlung wie bei seinen Vorgesetzten unbeliebt, gar verdächtig macht.

Die Form des Kriminalromans

In ihren Arbeiten benutzt Dacia Maraini öfter die Form des Kriminalromans – um zugleich von ihr abzuweichen. Zuletzt war das der Fall einer verschwundenen jungen Frau im Roman „Colomba“ , der in bezeichnender Weise auf deutsch unter dem Titel „Gefrorene Träume“ (Piper 2006) erschienen ist. In „Das Mädchen und der Träumer“ verschränken sich Themen wie der Wunsch nach Vaterschaft, der Umgang mit dem Tod und die Welt der Träume mit ganz aktuellen Problematiken der Kinderprostitution oder der Beziehung von Erziehern und Schülern. Dem Ich-Erzähler des Romans, dem Lehrer und zugleich passionierten Leser Nani Speranza, gelingt es, die Schüler seiner vierten Grundschulklasse durch Erzählungen und Mythen zu faszinieren. Von Orpheus Reise in die Unterwelt bis zum Martyrium der Heiligen Lucia und zu Collodis Erziehungsroman Pinocchio. Und er macht sie so zugleich zu Mitwissern seiner Suche nach dem Mädchen Lucia.

Eine spannende wie bewegende Geschichte

In ihrer Arbeit hat sich die Autorin von Anfang mit der Rolle der Weiblichkeit in der Gesellschaft auseinander gesetzt. „Wenn solche Themen, die mich betroffen machen, auftauchen, dann versuche ich, sie zu verarbeiten“, erzählt sie. Das passierte auch im jüngsten Roman, an dem sie drei Jahre lang gearbeitet hat, etwa mit dem Problem von Sextourismus und Kinderprostitution in Asien. Wenn sich die Schriftstellerin in „Das Mädchen und der Träumer“ zu weit von der Person des Icherzählers entfernt und sich der Text Absatzweise wie ein Artikel liest, zeigt das Buch Schwächen – findet aber zum Glück immer wieder in die Spur einer zugleich spannenden wie bewegenden Geschichte zurück.978-3-85256-715-0

Dacia Maraini: Das Mädchen und der Träumer. Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler. Folio Verlag, Wien/Bozen 2017. 319 Seiten, 22 Euro

Siehe auf Cluverius das Gespräch mit der Autorin („Träume sind Zeichen, sie schlagen Alarm“)