Eine Ausstellung in der norditalienischen Stadt zeigt die metaphysische Malerei von Giorgio de Chirico 1915-18 und sein Einfluss auf die europäische Avantgarde
Ferrara (Palazzo dei Diamanti bis 28.2.) In der Biographie von Giorgio de Chirico (1888-1978) markieren die Jahre, die der italienische Maler vor einhundert Jahren in Ferrara verbrachte, einen tiefen Einschnitt. Eine repräsentative Auswahl von Bildern der Zeit ist gerade in einer gelungenen Ausstellung im Palazzo dei Diamanti der Stadt zu sehen. Sie zeigt mit rund 70 Exponaten ebenso Arbeiten unter anderen von Carlo Carrà, Giorgio Morandi, Max Ernst oder René Magritte. Gemälde und Zeichnungen, die den Einfluss von de Chirico auf verschiedene Strömungen der europäischen Avantgarde dokumentieren.
Als Italien im Frühjahr 1915 in den ersten Weltkrieg eintrat, meldeten sich die Brüder Alberto und Giorgio de Chirico, die damals in Paris lebten, zum Militärdienst. Giorgio hatte sich bereits nach einem Studium in München einen Namen als Maler machen können. Der um drei Jahre jüngere Alberto, ein Schüler von Max Reger, war unter dem Pseudonym Alberto Savinio als Musiker weniger erfolgreich. Er sollte später vor allem als Autor (und ein wenig auch als Maler) bekannt werden. Die beiden wurden nach Ferrara berufen und leisteten Innendienst. Zunächst fühlten sie sich im Anschluss an die Pariser Jahre in der kleinen ehemalige Residenzstadt, auf dem halben Weg zwischen Bologna und Venedig gelegen, ziemlich verloren. Doch dann ließen sich die Brüder von dem provinziellen Charme Ferraras mit seinen leeren weiten Plätzen und stillen alten Gassen fangen.
Figuren, die wie Poeten agieren
Giorgio de Chirico löste sich unter dem Einfluss des Ortes in seinen Bildern (die alle nach Dienstschluss oder am Wochenende entstanden) von einer eher autobiographischen Phase der früheren Jahre. Es ging ihm jetzt um ästhetisch-philosophische Probleme, um Objektivierung seiner Erfahrung. Er benutzte ganz reale Dinge, die er zu irreale Szenarien drapierte. Auf utopischen Platzanlagen, meist aber in verträumten Innenräumen. Mit seinen „Manichini“ (Schneiderpuppen) – von denen die Ausstellung eine überwältigende Auswahl zeigt – kreierte er Figuren, die wie „Poeten“ agieren. Oder er entwickelte Motive mit Bilder im Bild, indem er eine Art Atelier mit einem Gemälde auf einer Staffelei malte. Zum Beispiel in der Arbeit „Metaphysisches Interieur mit großer Fabrik“ (1916) aus der Stuttgarter Staatsgalerie.
So wollte de Chirico gleichsam den Inneren der Dinge auf die Spur kommen, ihr Wesen erkunden. Frei nach dem von ihm verehrten Friedrich Nietzsche („Der Wanderer und sein Schatten“): „Wir müssen wieder gute Nachbarn der nächsten Dinge werden und nicht so verächtlich wie bisher über sie hinweg nach Wolken und Nachtunholden hinblicken.“ Später wird er das – in leichter Verschiebung der aristotelischen Definition – eine „metaphysische Malerei“ nennen. Den Begriff haben Kunstgeschichtler und Kritiker, die gerne klassifizieren, aufgenommen und zum Markenzeichen gemacht.
Wie die „metaphysische Malerei“ Funken schlug
Durch einen engen Kontakt etwa mit Carlo Carrà, der sich im Sommer 1917 in Ferrara aufhielt, strahlte der Einfluss dieser Malerei auch auf die Umgebung von de Chirico aus. Von diesen Bildern fühlte sich ebenso ein Giorgio Morandi angezogen. Und über Veröffentlichungen in Zeitschriften schlug diese „metaphysische Malerei“ aus Ferrara europaweit bei Dadaisten, Surrealisten und Künstlern der Neuen Sachlichkeit Funken.
Unter dem Titel „Giorgio de Chirico – Magie der Moderne“ wird die von Paolo Baldacci und Gerd Roos kuratierte Ausstellung vom 18.3. bis zum 3.7. 2016 leicht verändert in die Staatsgalerie nach Stuttgart wandern. Einige Privatsammler fürchten die staatliche Aufsicht – Gemälde italienischer Herkunft müssen, auch wenn man sie nur zeitweilig ins Ausland bringt, bei den Behörden deklariert werden. Deshalb, und weil der Zustand einiger Exponate äußerst prekär erscheint, wird die Stuttgarter Ausstellung auf einige italienische Exponate verzichten und bei der Auswahl mehr Gewicht auf den Einfluss von de Chirico auf die europäische Avantgarde legen.
De Chirico a Ferrara. Palazzo dei Diamanti, Ferrara, bis 28.2.2016. Tgl. 9-19 Uhr, Eintritt 11 Euro. Katalog (Ferrara Arte) 28 Euro in der Ausstellung, 45 Euro im Handel. Info: www. palazzodiamanti.it
Erstveröffentlichung in etwas gekürzter Fassung in der Stuttgarter Zeitung vom 25.11.2015