Venedig, im Dezember – Die Lagunenstadt putzt sich für die Festtage heraus. Wenn wieder mehr Besucher kommen und man im Frühstücksraum im B&B am Morgen nicht mehr alleine bleibt. Am Abend zuvor haben ein paar Jugendliche auf der Eisbahn hinter der Kirche S. Polo bei schräger Musik einsame Runden gedreht. Der Weihnachtsmarkt auf dem Campo Santo Stefano zählt zeitweilig mehr Buden als Neugierige. In den Gallerie dell’Accademia trauert eine romantisch schöne Ausstellung Canova, Hayez, Cigognara der letzten Glanzzeit von Venedig in besucherleeren Sälen nach. Die Accademia-Brücke ist eingerüstet. Restaurierungsarbeiten, die am 2. Oktober begonnen haben, sollen 210 Tage dauern. Die Kosten, bis auf den letzten Cent berechnet, belaufen sich auf 813.685,01 Euro. So steht es auf einer Hinweistafel. Ob die Rechnung aufgeht?
Der melancholischen Stimmung entkommt man im „Al Bottegon“ oder, wie es förmlich heißt, in den „Cantine del Vino già Schiavi“. Doch das ist viel mehr als eine Weinhandlung. In einem Bàcaro, wie dieser Typ Lokal hier genannt wird, drängen sich Einheimische und Besucher sogar in der adventlich „stillen“ Zeit. Ein Bàcaro wie das Bottegon ist eine „Belebungsinsel“. Den schönen Begriff hat der Schriftsteller und Venedigkenner Hanns-Josef Ortheil geprägt. Eine Insel, die auf den Streifzügen durch Gassen und Gänge ein Glas Wein und einen Happen zur Stärkung liefert. Oder die Möglichkeit bietet, der Einsamkeit zu entfliehen. Aber was heißt schon „Happen“. Die hier angebotenen kleinen Stückchen Brot, mit Fisch oder Früchten, Käse oder Salate, gefüllten Pilzen oder Walnusspesto in mehreren, sich abenteuerlich auftürmenden Schichten belegt, sind ein Genuss für die Augen wie für den Gaumen. Die Venezianer nennen sie Cicchetti . Sie sind entfernte Verwandte der spanischen Tapas. Die Chefin des Bottegon und Cicchetti-Künstlerin Alessandra De Respinis hat ein Rezeptbuch – ein Cicchettario – zusammen gestellt, in dem sie die Zutaten ihrer phantasievollen wie phantastischen Kreationen preis gibt. Für die deutsche Ausgabe hat Hanns-Josef Ortheil ein liebevolles Nachwort geschrieben. Im Deutschen Studienzentrum im Palazzo Barbarigo della Terrazza – auf seine Weise für das kulturelle Leben Venedigs auch eine Art „Belebungsinsel“ – wurde das kleine Buch kürzlich vorgestellt.
Alessandra De Respinis: Cicchettario. Die legendären Rezepte des Al Bottegon in Venedig. Übersetzt von Lotta Ortheil. Mit einem Nachwort von Hanns-Josef Ortheil. Dieterich`sche Verlagsbuchhandlung, Mainz. 192 Seiten, 20 Euro.
Siehe auch auf Cluverius: „Kreative Begegnungen an der Lagune“