VENEDIG ALS METAPHER


Eine anregende wissenschaftliche Tagung in der Lagunenstadt am Deutschen Studienzentrum über das Thema Brücke, Literatur und Migration

© Petra Schäfer

Blicke, Brücken, Spiegelungen – Wege über reale und metaphorische Brücken in Venedig

Venedig – Welche Rolle kann Literatur als Brücke spielen? Im Deutschen Studienzentrum Venedig (DSZV) trafen sich jetzt deutschsprachige und italienische Literaturwissenschaftler, um verschiedene Aspekte der Migrationsbewegungen in Texten, Comics oder auch Filmen zu diskutieren. Es ging darum – unter der Organisation von Barbara Kuhn (Uni Eichstätt) und Marita Liebermann (DSZV) -, das Bild der Brücke kritisch zu reflektieren sowie den Begriff der Migrationsliteratur unter die Lupe zu nehmen. Ohne Scheu vor der umfassenden Thematik und dem weit ausufernden Material gelang es den Teilnehmern aus Konstanz oder Berlin, Bologna oder Innsbruck, Graz oder Paderborn, sich in ihren Beiträgen – gleichsam wie bei einer Akupunktur – der Vielseitigkeit der Aspekte zu stellen ( – hier ein pdf mit Programm und Teilnehmern zum runterladen). Wobei Migration in ihrer ganzen Brandweite zwischen Flucht und Tourismus, zwischen ökonomischen und kulturellen Bewegungen verstanden wurde.

Brücken – reale wie imaginäre, kulturelle wie soziale oder politische – verbinden nicht nur, sondern sie trennen auch etwas, was nicht zusammen gefügt ist. Das DSZV, gefördert vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, hat unter ihrer Leiterin Marita Liebermann seit 2018 das Forschungsprofil „Brücken – Begegnungen zwischen Ufern“ entwickelt, das diese Ambivalenz der Brücke fruchtbar machen möchte. In den Programmen und Veranstaltungen des Studienzentrums geht es zurzeit darum, in der „Brückenstadt“ Venedig über das Thema Trennen und Vereinen unter vielfältigen Aspekten und unterschiedlichen wissenschaftlichen wie künstlerischen Ansätzen nachzudenken. Wobei die Lagunenstadt in Geschichte und Gegenwart lokal eine Rolle spielt und zugleich in einer Debatte über globale Zusammenhänge und Probleme über sich hinaus weist.

Unter dem Deckmantel der Sprachvermittler

Auf der Tagung zogen sich Spannungsbögen von Ungarettis Gedichtsammlung „Il deserto e dopo“ zu Musikeinlagen in italienischen Migrationsfilmen. Von den Frauenfiguren in Tassos „Gerusalemme liberata“ zu Comics in Belgien über das Schicksal italienischer Migranten in den Bergwerken des Landes. Von der albanischen Schriftstellerin Ornela Vorposi, die in Paris lebend auf Italienisch schreibt, zur Migrationsliteratur in Italien, bei der Stoffe zugewanderter Autoren von heimischen Kollegen unter dem Deckmantel der Sprachmittler teilweise dreist ausgenutzt wurden.

Das Bild der Brücke tauchte dabei in vielfachen Varianten auf. Als Schritt „aus der Isolation“, wie es am Beispiel von Vincenzo Consolo beschrieben wurde. Oder Escher-Zeichnungen gleich als vielfache Überlagerungen, die in Simone Weils unvollendeter Tragödie „Venise sauvée“ („Das gerettete Venedig“) zu finden sind. Die Brücke als Wunsch nach Versöhnung und nach Identität wurde im lyrischen Schaffen von Amelia Rosselli nachgezeichnet. Die Autorin (und Musikerin), sprachlich hin und her gerissen zwischen dem Französischen ihrer Jugendjahre, dem Englischen ihrer Mutter und dem Italienischen ihres (von den Faschisten im Pariser Exil ermordeten) Vaters, spürte gleichsam drei Seelen in ihrer Brust: „I one in Three“.  Sie nahm sich 1996 im Alter von 66 Jahren in Rom das Leben.

Casanova, von Hofmannsthal und Balzac

Im Programm des Studienzentrums wird darauf hingewiesen, dass sich gerade in Venedig „auf paradigmatische Weise“ studieren ließe, wie „Migrationen – von Personen, aber auch von Wissen, von Ideen und kreativen Impulsen – historisch oft mit dem Bau von Brücken einhergehen.“ So thematisierte ein der Tagung angegliederter Abendvortrag die Rolle von Goldoni und Casanova in Hugo von Hofmannsthal Komödie „Cristinas Heimreise“ und die kulturellen Verflechtungen von Wien und Venedig in der frühen Moderne (hier im streaming). Die Figur des Casanova als eine Art Blaupause für Balzacs Protagonisten Facino Cane in der gleichnamigen Erzählung stand auch im Mittelpunkt einer Erörterung über den Verlust der Heimat als chronische Krankheit, mit der die Tagung abschloss. Die Brücke Literatur zur Überwindung der Trauer im Exil, so ihr Fazit, könne die Schmerzen über den Verlust von Heimat nicht tilgen aber differenzieren. Literatur erweise sich oft als Medium und Ort der Selbstreflektion für Migranten.

Und Venedig, das einst von Migranten gegründet wurde, so der Tenor diese anregenden Tagung, bildet dafür eine Metapher.

© Jost Wischnewski

Info Studienzentrum hier 

Und hier zu einem aktuellen Video, mit dem sich das DSZV präsentiert