Touristenflut, Korruption und ein tölpelhafter neuer Bürgermeister
Venedig. Das kulturelle Klima in der Lagunenstadt zeigt sich trotz eines milden Spätsommerwetters eher trübe. Man zankt über einen klotzigen Neubau am Canal Grande, während der Streit um das historische deutsche Kaufmannslager Fondaco dei Tedeschi, das Benetton zu einem Einkaufszentrum umbauen lässt, weiter schwelt. Auch die Filmbiennale hat in diesem Jahr weniger Glamour in die Serenissima als sonst gebracht. Und während sich Touristen drängelnd und stoßend Zugang zu den Vaporetti, den Booten des öffentlichen Nahverkehrs, verschaffen, verlieren sich die Besucher der Kunstbiennale in den Giardini und im Arsenale. Derweil bleibt ein Moschee-Kunstprojekt des Schweizers Christoph Büchel für den isländischen Pavillon der Biennale geschlossen. Der entweihte Kirchenraum, in der die Moschee-Installation untergebracht ist, darf nach Anordnung der Stadtverwaltung „nicht für religiöse Zwecke“ genutzt werden. Ist Kunst Religion?
Kräftigen Anteil am Stimmungstief hat auch der neue konservative Bürgermeister Luigi Brugnaro, der im Juni als Vertreter eines Mitte-Rechts-Bündnisses aus Berlusconis Forza Italia und der rechtspopulistischen Lega Veneta sowie kleinerer Gruppen gewählt wurde. Der 54jährige Bauunternehmer und Vorsitzende eines Sportvereins stammt vom Festland und wollte kürzlich in der Lagune eine Insel für ein Immobilienprojekt kaufen.
Eine saubere Welt für kleine Kinder
Als eine der ersten Amtshandlungen ließ er Anfang August aus den Bibliotheken der Kindergärten und Grundschulen alle Bücher entfernen, in denen gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften als alternative Familienmodelle dargestellt werden – darunter nach Presseberichten auch ein Titel wie „Das kleine Blau und das kleine Gelb“ von Leo Lionni. Als der britische Popstar Elton John den Bürgermeister daraufhin über Twitter als „rüpelhaft und bigott“ beschimpfte, polterte Brugnaro zurück, der „reiche“ Elton John sollte nicht nur Geld für eine Wohnung in Venedig ausgeben, sondern etwas Substantielles zur Erhaltung der Stadt finanzieren: „Fora i schei“ – frei übersetzt – „Raus mit den Kröten!“ Und die leeren Gemeinkassen will er füllen, indem er am liebsten Kunstwerke im Besitz der Stadt verkaufen möchte, die nicht an die „venezianische Identität“ gebunden seien – Arbeiten von Klimt etwa oder Chagall des kommunalen Museums für moderne Kunst Ca’Pesaro. Im römischen Kulturministerium hält man solche Pläne für einen „Witz“.
Drei Flutwellen bedrohen die auf Holzpfählen errichtete Lagunenstadt. Das Meer, das im Rhythmus der Gezeiten her in die Lagune dringt und besonders in Herbst und Winter die Inseln um San Marco herum teilweise überspült. Die Flut der Touristen, die von Jahr zu Jahr steigt und mehr noch als das Wasser die Identität dieser einmaligen Stadt angreift. Und eine Welle von Illegalität in Politik und Wirtschaft, die das Gemeinwesen von Innen aushöhlt.
Die schmutzigen Geschäfte des Mose-Konsortiums
Vor dem Hochwasser soll ein ausgeklügeltes System beweglicher Fluttore schützen. Unter dem Namen „Mose“ wurde der nicht nur von Ökologen kritisierten Bau nach langer Vorplanung 2003 begonnen. Die Fertigstellung hat sich mehrfach verzögert, ein Ende ist erst in drei Jahren abzusehen und die Kosten sind dabei von 3,4 auf 5,5 Milliarden Euro in die Höhe geschossen. Darin sind auch Millionenbeträge von Schmiergeldern enthalten. Denn das Mose-Baukonsortium finanzierte Politiker und trat nur scheinbar uneigennützig als Sponsor von zahlreichen gesellschaftlichen und kulturellen Veranstaltungen auf. Bis ein Korruptionsskandal die politische Klasse und Unternehmerkreise der Stadt und der Region durcheinander rüttelte. Rund 35 Personen stehen unter Hausarrest oder befinden sich im Gefängnis, gegen Dutzende weitere wird ermittelt. Betroffen sind unter anderem Giancarlo Galan, der frühere Regionalpräsident Venetiens und ehemalige Kulturminister Berlusconis, der sich mit einem Vergleich durch Zahlung von 2,6 Millionen Euro von einer Gefängnisstrafe frei kaufen konnte. Und auch der frühere Bürgermeister der sozialdemokratischen Partei musste zurücktreten, weil er sich vom Konsortium den Wahlkampf hatte mitfinanzieren lassen.
Die Kunstzeitschrift „Giornale dell’Arte“ kommentierte erbost, das Mose-Projekt habe Politik und Kultur der schönsten Stadt der Welt vergiftet und den Bürgern jedes Vertrauen in die Institutionen genommen. Dazu gehört auch die Frage der riesigen Kreuzfahrtschiffe, die jahrelang gerne nahe an der Markus-Insel vorbeifuhren, um ihren Gästen einen spektakulären Blick auf das Herz der Stadt zu bieten, bevor man im eher schmuddeligen Hafengebiet vor Anker ging. Gianni Berengo Gardin, der Doyen der italienischen Fotografie, hatte vor zwei Jahren die Öffentlichkeit mit einer großen Zeitungsreportage über die „Monsterschiffe“ aufgerüttelt, die wie Bettenburgen aus dem Reich Gullivers ins liliputanische Venedig eindringen. Die von den Schiffsriesen aufgewühlten Wasser bedrohen dabei mehr als anderes die fragilen Grundfesten der Stadt. Zugleich spülen sie aber viel Geld in die leeren Kassen der Gemeinde und sichern Arbeitsplätze. In einem undurchsichtigen Zickzack-Verfahren wurde einerseits eine Einfahrt der Schiffe in die Bucht von San Marco verboten, anderseits hoben Gerichte den Zwang zu Alternativrouten wieder auf. Inzwischen bastelt die Stadtverwaltung an neuen Plänen, die die Umweltschäden der Kreuzfahrer minimieren sollen, ohne sie jedoch ganz aus der Lagune zu vertreiben.
Der Boykott einer Ausstellung über „Monsterschiffe“
Kritiker sind da nur Störenfriede. Neubürgermeister Brugnaro, der auch das Ressort für Kultur verwaltet, hat jetzt eine lang vorbereitete Foto-Ausstellung scheitern lassen, die ab dem 19. September im Palazzo Ducale Arbeiten von Berengo Gardin über die „Monsterschiffe“ zeigen sollte.
Das, so der Gemeindevorsteher, wäre eine „Negativwerbung“ für Venedig. Wenn überhaupt dürften die Fotos nur in Zusammenhang mit Plänen der Stadt zur Regulierung des Kreuzfahrttourismus präsentiert werden. Das aber lehnt der 85jährige Fotograf als Eingriff in den künstlerischen Aufbau seiner Ausstellung ab. Der venezianische Schriftsteller Tiziano Scarpa zeigte sich in einem Interview mit der Tageszeitung „la Repubblica“ entsetzt über den „Boykott“ des Bürgermeisters. Der würde sich wie ein „kleiner Berlusconi“ aufspielen – „nur mit zwanzig Jahre Verspätung“.
Kein gutes Haar lässt auch der Kulturwissenschaftler und Kunsthistoriker Salvatore Settis am Umgang mit Venedig. Die touristische Monokultur bedrohe die Stadt wie „eine Seuche“. In einer Streitschrift, die jetzt unter dem Titel „Wenn Venedig stirbt“ auch auf Deutsch bei Wagenbach erschienen ist (140 S., 16,90 Euro), warnt er vor einem Venedig ohne Venezianer. Jede Stadt sei „eine lebendige Erzählung der eigenen Geschichte“, aber auch das Gesicht der Bevölkerung, „die in ihr lebt, sie bewahrt und gestaltet.“
Doch die Bürger Venedigs fliehen ihre Stadt, zumindest das historisches Zentrum in der Lagune. In schwindelnde Höhen steigende Grundstücks- und Immobilienpreise sowie der Verlust von Strukturen des sozialen Gefüges (Schulen, Arztpraxen, Lebensmittelläden, Kinos, Theater) treiben sie aufs Festland. In der Nachkriegszeit hat sich die Wohnbevölkerung um fast zwei Drittel verringert. Bei der „Farmacia Morelli“ am Campo San Bartolomeo läuft inzwischen der Count Down. Auf einer digitalen Anzeige im Schaufenster der Apotheke kann man die offizielle Zahl der Wohnbevölkerung von Alt-Venedig lesen. Vor sieben Jahren, als eine Bürgerinitiative diese „Uhr“ aufgestellt hatte, waren es bereits nur noch rund 61 000 gegenüber dem Höchststand von 1951 mit 174 000. Am vergangenen Sonntag konnte man die Zahl 55 977 lesen.
(Über die Entwicklung informiert www.veneziatoday.it)
Aktualisierte Fassung (13. Oktober) einer Erstveröffentlichung in der Stuttgarter Zeitung vom 17. September 2015