Die Expo2015 und ihr kulturelles Erbe – lokal wie global
Mailand. Dass für Mailand die Expo2015 mehr war, als eine von Oben verordnete, eher ungeliebte Großveranstaltung, begriff man gleich zu ihrem Beginn am ersten Mai-Wochenende. Gewaltsame Demonstrationen von Gegner der Weltausstellung unter Beiteilung von Black Blocks, die eine friedlich agierende Mehrheit ins Abseits stellten, hatten am Eröffnungstag für schwere Verwüstungen in der Innenstadt gesorgt. Schaufenster wurden eingeschlagen, Autos in Brand gesetzt, ganze Straßenzügen glichen nach Abzug der Demonstranten einem Schlachtfeld. Am Tag danach, einem Samstag, demonstrierten nicht nur mehrere Tausend Bürger gegen die Gewalt. Sie griff auch mit Besen, Schaufeln und Eimern zur Selbsthilfe und säuberten die Straßen. Die Angestellten von Supermärkten und Banken halfen mit, ihre zerstörten Filialen wieder herzurichten, Glaserbetriebe arbeiteten rund um die Uhr, und am Montag waren bereits so gut wie alle Spuren beseitigt.
Die Expogegner, die vielleicht sogar auf Solidarisierung gesetzte hatten, sahen sich Bürgern gegenüber, die nach vielen Jahren der Indifferenz gegenüber ihrer Stadt wieder eine Art zivilen Stolz entwickelten. Der war bereits in den Jahren zuvor langsam gewachsen. In Mailand hatte sich trotz der Wirtschaftskrise ein positives kulturell-gesellschaftliches Klima verbreitet. Die Kreativwirtschaft (Mode, Design) konnte wieder Zuwachszahlen vorweisen. Startups schossen wie Pilze aus dem Boden. Das Kulturangebot wuchs. Neue Museen (Museo del Novecento, Mudec) waren entstanden. Für Michelangelos Rondanini-Pietà wurde im Castello ein eigenes Ambiente geschaffen. Private Stiftungen (Prada, Trussardi, Pirelli) bereicherten das Angebot. Groß angelegte Festivals (Milanesiana, Book City) sorgten für Furore.
Licht und Schatten von „Expo in Città“
Für die Weltausstellung wurden unter der Regie der Kulturabteilung der Stadtverwaltung Kräfte gebündelt. Sechs Monate lang bot man unter dem Stichwort „Expo in Città“ („Expo in der Stadt“) geradezu ein Feuerwerk von großen und kleinen Veranstaltungen, von Ausstellungen, Theater- wie Musikaufführungen. Sicher, auch hier gab es Schatten. Die Scala zum Beispiel, die während der Expo-Monate jeden Tag Programm hatte, beklagte eine katastrophal schlechte Platzausnutzungen bei Konzerten. Und ausgerechnet die Kunstausstellung der Expo „Arts & Foods“, die nicht auf dem Ausstellungsgelände, sondern in der Stadtmitte (in der Triennale) eingerichtet worden war, wurde jedenfalls vom Publikumszuspruch her ein Flop.
Aber in der Stadt hatte sich längst die positive Grundstimmung verfestigt. Trotz aller Probleme etwa in den Randbezirken und beim sozialen Wohnungsbau, die gerne übersehen werden. Dennoch: Lang geplante Bauprojekte wie das neue Hochhausviertel um die Porta Nuova in der Innenstadt kamen zum Abschluss. Die Vergnügungsszene fand in umgestalteten ehemaligen Industrieanlagen (Zona Lambrate) oder am alten Kanalhafen (Darsena) neue Freiräume. Eine vierte Metro-Linie wurde fertig gestellt, eine fünfte ist in Bau. Die Verkehrsberuhigung der Innenstadt steigerte die Lebensqualität. Ein „grüner“ Strategieplan („Raggi verdi/Grüne Strahlen„) bietet die Chance zur nachhaltigen Stadtentwicklung. Die Expo, die die medialen Scheinwerfer auf Mailand richtete, führte diese Evolution nicht nur einem nationalen und internationalem Publikum vor Augen. Sondern ebenso viele Mailänder entdeckten verwundert, dass sie in einer auch urban attraktiven und kulturell quicklebendigen Stadt lebten.
Zwischen Jahrmarkt und inhaltlichen Debatten
Hohn und Spott über die teilweise mehr als holprige Vorbereitung der Weltausstellungen und vereinzelte Korruptionsfälle verblassten so nach der Eröffnung mit jeder Woche, in der sich die Expo als ein großes Volksfest erwies. Tagsüber für Familien, Schulklassen und Touristen, die sich nicht die Laune verderben ließen, wenn sie vor den beliebtesten Pavillons stundenlang Schlange stehen mussten. Und abends für hippe junge Leute und smarte Angestellte der Stadt, die zu den bis spät geöffneten internationalen Restaurants und Gourmetständen strömten. Das Thema dieser Weltausstellung „Den Planeten ernähren, Energie fürs Leben“ drohte jedoch in dieser fröhlichen Jahrmarktstimmung unterzugehen.
Der Philosoph Salvatore Veca von der Universität Pavia, der als Koordinator das wissenschaftliche Programm mit vorbereitet hat, zeigt sich im Gespräch dennoch nicht enttäuscht. Eine Weltausstellung, die Millionen Menschen anzieht, sei nun mal eine populäre Veranstaltung. Und sie habe sicher bei vielen Besuchern die Notwendigkeit eines mehr bewussten Umgangs mit Essen geweckt. Die Sensibilisierung breiter Besucherschichten sei ein erstes, wenn auch bescheidenes Erbe dieser Expo2015.
In den sechs Monaten bis zum 31. Oktober hatte es jedoch am Rande der Weltausstellung eine ganze Reihe von Tagungen mit Fachleuten, Wissenschaftlern aber auch von politisch-diplomatischen Treffen gegeben, die dem Ernährungsthema gewidmet waren. Eine Hauptrolle spielten dabei die Themen, die unter der Leitung von Veca zusammen mit der Feltrinelli-Stiftung in einem interdisziplinären „Expo-Laboratorium“ entwickelt worden waren. Dabei ging es etwa um Produktionsketten von Nahrungsmitteln, um verschiedene Esskulturen, um wirtschaftlich und soziale Fragen zum Beispiel beim Zugang zu Lebensmitteln und schließlich um das Verhältnis Stadt/Land – seit dem Jahr 2007 leben mehr Menschen auf der Erde in Städten als im ländlichen Raum.
Die Charta von Mailand
Die Studien dieser verschiedenen Themenfelder führte schließlich zur Ausarbeitung einer „Charta von Mailand“, dem, so Salvatore Veca, „eigentlichen kulturellen Erbe der Expo2015.“ In diesem Dokument wird unter anderem der freie Zugang zu qualitätsvollen Nahrungsmitteln als Menschenrecht formuliert, das Missverhältnis zwischen Hunger einerseits und Überernährung andererseits kritisiert, die Verschwendung von Lebensmitteln beklagt, und das Bewusstsein geschärft, dass angesichts einer wachsenden Weltbevölkerung, die Problem nicht an zukünftige Generationen delegiert werden könne.
Die „Charta von Mailand“ endet schließlich mit einer Verpflichtung der Unterzeichner (Einzelpersonen, Vereinigungen der Zivilgesellschaft sowie Unternehmen) sich für einen bewussten Konsum von Nahrungsmitteln und ihre nachhaltige Produktion einzusetzen, sowie entsprechend auf die politischen Entscheidungsträger einzuwirken. Die Charta bildet so eine Art Scharnier zwischen der volkstümlichen Dimension der Expo2015 und der inhaltlichen Debatte. Die Beteiligung ist beeindruckend: Bislang haben sie mehr als eine Millionen Personen bzw. Einrichtungen unterschrieben. Die Unterschriften wurden UN-Generalsekretär Ban Ki-moon bei seinem Besuch in Mailand Ende Oktober überreicht.
Harsche Kritik und große Träume
Doch es gab auch Kritik. Der Caritas Verband sah das Thema Armut und Ernährung „an den Rand gedrückt“. Die Slow Food Vereinigung beklagte Kompromisse gegenüber multinationalen Konzernen. Und das Netzwerk Fian (Food First Informations- und Aktions-Netzwerk) hält das Dokument sogar für „Blendwerk“ und eine reine „Imagekampagne“. Veca begrüßt, dass eine Diskussion in Gang gekommen sei, die ohne die Charta nicht diese Dimension erreicht habe. Und er verteidigt sie als das „Dokument einer aktiven globalen Staatsbürgerschaft“, um zur Veränderung der bestehenden Verhältnisse im Großen wie im Kleinen beizutragen. Ziel sei die „realistische Utopie eine Welt ohne Hunger.“
Der 72jährige Philosoph hofft, dass die Debatte anhält und es vielleicht zur Gründung eines internationalen Instituts zur Forschung, Bildung und Erziehung in Ernährungsfragen im Zusammenhang mit einer nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung und mit dem Umweltschutz kommen könnte. „Das wäre mein Traum.“
Zu den Ungereimtheiten der Vorbereitung gehört allerdings, das man sich nicht bereits früh auf die Nachnutzung des Expo-Geländes verständigt hat. Die Hälfte des Geländes von ca. 100 Hektar Fläche soll als Parkanlage erhalten bleiben. Die andere Hälfte könnte Platz für ein „lombardisches Silicon Valley“ bieten, in dem Universitätsinstitute ein Netzwerk mit Einrichtungen zur Förderung von Handwerk und Technologie bilden würden. Für Mailand und die Lombardei wäre das die Aussicht, das Erbe der Expo kulturell und wirtschaftlich für zukünftige Generationen fruchtbar zu machen. Es wäre traurig, wenn diese Chance vertan würde.