WEDER DUMMKÜHN NOCH FRECH


Briefe aus der Quarantäne (8): Blühende Bäume, schreckliche Vorstellungen und Botschaften aus der Reformationszeit

© Cluverius

Gepflegtes Grün auch in der Coronazeit – Mailand bei der Porta Venezia

Mailand (30. März) – Montag, der dreiundzwanzigste Tag im Ausnahmezustand. Sonnenschein wechselt mit Regen, der Frühling hat begonnen. Morgen, Dienstag, sollen die Temperaturen wieder sinken, es könnte sogar schneien. Der April und das Aprilwetter stehen vor der Tür. Die Grasflächen unter den blühenden Bäumen bei der Porta Venezia, die man auf dem Weg zum Supermarkt passiert, wurden diese Woche geschnitten und gesäubert. Es tut gut zu sehen, dass die Stadt sich auch in der Krise pflegt und auf ihr grünes Kleid hält. Dabei hätte sie allen Anlass, Trauer zu tragen.

Denn wie das Wetter schwankt, schwanken auch die Zahlen der täglichen Corona-Bulletins. Mal gib es weniger Tote als am Vortag, mal mehr. Bis heute starben in der Lombardei mehr als 6300 Menschen, im Großraum Mailand allein 900. Wie es scheint, gehen die Neuinfizierungen leicht zurück. Die Plätze auf den Intensivstationen reichen aus – auch Dank der Hilfe etwa aus Deutschland, wo Patienten in Köln, Leipzig oder Stuttgart aufgenommen wurden.  Der Höhepunkt der Epidemie ist wohl noch nicht erreicht. Und der Einzelne bewegt sich zwischen privat und öffentlich hin und her, zwischen Fluchten in häusliche Tätigkeiten und gespanntem Verfolgen der Nachrichten.

Parkwächter ohne Autos

Öffentlich: Besonders in Süditalien, wo viele Familien unter der absoluten Armutsgrenze leben, wird der soziale Zusammenhalt brüchig. Man liest von Überfällen auf Supermärkte. Vereinzelt wurden sogar Käufern, die die Läden verließen, die Einkaufstüten aus den Händen gerissen. Im Norden kommt bei meist geregelten Beschäftigungsverhältnissen , staatliche Hilfe an. In Neapel oder Palermo hielten sich bislang weite Bevölkerungskreise durch Schwarzarbeit oder prekäre Tätigkeiten über Wasser – rund 10 Prozent der Einwohner in Kampanien oder auf Sizilien lebt unter der Armutsgrenze. „Hier gibt es ein Problem, das nicht zum Lachen ist“, schreibt Sergio Rizzo in la Repubblica. „Wie kann man Arbeitslosengeld einem illegalen Parkplatzwächter zahlen, der seine Kinder ernähren muss, aber keine Autos mehr hat, die geparkt werden?“

Ganz zu schweigen von dem löchrigen Gesundheitssystem südlich von Rom. Allein die Vorstellung, dass dort ähnliche Verhältnisse wie in der – trotz allem – noch verhältnismäßig gut aufgestellten Lombardei ausbrechen könnten, so die Zeitung, löse terrore, „Angst und Schrecken“, aus. Noch hält der Süden stand, die Zahl der Neuinfizierten steigt, ist aber (noch) nicht dramatisch. Forza Napoli! Und bei uns in Mailand? Wo sind eigentlich die vielen Bittsteller aus fremden Ländern geblieben, die stundenlang vor den Ausgangsbeschränkungen vor jeder Bar, vor jedem Supermarkt standen, um ein paar Cents zu erhaschen? Wovon leben sie heute?

Alte Bekanntschaften

Privat: Vor nicht ganz zwei Jahren bin hier ins alte Lazzaretto-Viertel gezogen. Gestern und heute habe ich endlich die Bücher, die bislang eher kunterbunt in den Regalen standen, geordnet. Dabei immer wieder inne gehalten bei Entdeckungen – hast du das überhaupt gelesen? – oder bei alten Bekanntschaften – das solltest du mal wieder lesen!

Und dann stellt man auch gedankenvoll, geradezu vorsichtig ein Buch an seinen richtigen Platz: „Fratelli d’Italia“ in der Ausgabe des Adelphi Verlages. Oder den „L’Anonimo lombardo“ gleich daneben. Bücher, die auf wunderbar „schräge“ Weise mit überbordenden  Wortkaskaden vom italienischen Wirtschaftsboom der 1960er Jahre erzählen. Ihr Autor, Alberto Arbasino, geboren 1930 in Voghera, ist am vergangenen Montag in Mailand im Alter von 90 Jahren gestorben. Vor Jahren war ich ihm mal bei den Feltrinellis begegnet. Er hörte überhaupt nicht auf, auf mich einzureden. Als wollte er mir einen Roman diktieren. Der „frivole“ Arbasino, so lese ich gestern von Goffredo Fofi im Sole 24 Ore, habe zusammen mit Pasolini und Sciascia  die „schärfsten Analysen“ über Italien verfasst. Autoren wie sie haben Ehrenplätze in meiner privaten Bibliothek.

Ob man vor dem Sterben fliehen möge?

Andreas, der sein Architekturbüro jetzt im digitalen Austausch auf Schwung hält, ist auch Vorsitzender der lutherischen Gemeinde Mailands. Er schickt über WhatsApp eine Botschaft aus der Reformationszeit.

„Brauche die Arznei, nimm zu dir, was dir helfen kann, räuchere Haus, Hof und Gasse, meide auch Personen und Stätten, da dein Nächster dein nicht bedarf oder genesen ist, und stelle dich als einer, der ein allgemeines Feuer gern dämpfen helfen wollte. Denn was ist die Pestilenz anders als ein Feuer, das nicht Holz und Stroh, sondern Leib und Leben auffrisst?“

Hier schreibt Martin Luther. Es ist das Jahr 1527. Ausräuchern – die Desinfektion der damaligen Zeit.

„Und denke so: Wohlan, der Feind hat uns durch Gottes Verhängnis Gift und tödliche Krankheit herein geschickt, so will ich zu Gott bitten, dass er uns gnädig sei und wehre. Danach will ich auch räuchern, die Luft reinigen helfen, Arznei geben und nehmen. Orte und Personen meiden, da man meiner nicht bedarf, auf dass ich mich selbst nicht verwahrlose und dazu durch mich vielleicht viele andere vergiften und anstecken und ihnen so durch meine Nachlässigkeit Ursache des Todes sein möchte.“

Aus Hannover meldet sich Norbert Denecke, ehemaliger Pastor der Mailänder Gemeinde und heute Geschäftsführer des Deutschen Nationalkomitees des Lutherischen Weltbundes. Er erklärt: „1525 hat in Breslau die Pest gewütet. Die Theologen in Breslau streiten, ob ein Christenmensch angesichts der Pest fliehen soll. Sie wenden sich an Luther. Luther selbst ist zu diesem Zeitpunkt krank und wie immer mit Arbeit völlig überlastet. Luther beginnt, seine Antwort im Jahr 1527 zu schreiben, als in Wittenberg gerade die Pest ausbricht. Der Auszug entstammt der Schrift Ob man vor dem Sterben fliehen möge und ist an den leitenden Pfarrer von Breslau gerichtet.“

Also sprach Martin Luther:

„Will mich indes mein Gott haben, so wird er mich wohl finden, so habe ich doch getan, was er mir zu tun gegeben hat, und bin weder an meinem eigenen noch an anderer Menschen Tode schuldig. Wo aber mein Nächster mein bedarf, will ich weder Orte noch Personen meiden, sondern frei zu ihm gehen und helfen, wie oben gesagt ist. Siehe, das ist ein rechter, gottesfürchtiger Glaube, der nicht dummkühn noch frech ist und auch Gott nicht versucht.“

Solidarität, Klugheit, Gottvertrauen. Schon merkwürdig, mit welchen Texten man sich in Mailand zu Zeiten der Corona-Krise auch als nichtgläubiger Christ auseinander setzen kann.

Wird fortgesetzt

© Cluverius

Eine kleines (kleines?) Thema im Schatten von Corona – Plakat im Lazzaretto Viertel