Briefe aus der Quarantäne (6): Das Frühlingswetter und der Nebel der Betäubung
Mailand (18. März) – Mittwoch, der elfte Tag im Ausnahmezustand. Im Deutschlandfunk höre ich: Der Präsident des Weltärzteverbandes Frank Ulrich Montgomery hält Ausgangssperren für kein geeignetes Mittel im Kampf gegen Coronavirus. Italien habe gezeigt, dass das nicht funktioniere. Man schüttelt nur noch mit dem Kopf. Gerade Italien zeigt, dass es funktioniert.
Die Ansteckungen in dem Bereich der Provinz Lodi südlich Mailand, in denen als erstes eine zona rossa mit absoluter Ausgangssperre eingerichtet worden war, gehen immer weiter zurück. In der gesamten Lombardei steigen sie noch – aber „nur“ noch linear nicht mehr expotentiell. Doch auch das lineare Wachstum bringt die Krankenhäuser weiter in Not. Die volkstümliche Weisheit am Zeitungskiosk: Es liefen immer noch viel zu viele Menschen draußen herum, meint Massimo.
Wie im Wartezustand
Kein Wunder, bei dem Frühlingswetter. In offenen Parkanlagen, die nicht eingezäunt sind, sonnen sich Menschen, treiben Sport. Doch die Stimmung bleibt gedrückt. Alberto Rollo, Autor und Verlagslektor, schreibt in der Repubblica: „Die Aussicht, in einem überwachten Staat zu leben, verbreitet sich über das Land wie ein kaum wahrzunehmender Nebel, der bremsend, fast betäubend wirkt, als ob wir uns im Wartezustand befänden.“
Der Journalist und Schriftsteller Paolo Rumiz aus Triest hält ein Diario della quarantena. Der Zivilschutz, heißt es im Tagebuch, komme mit seinen Durchsagen von Lautsprecherwagen aus bis in abgelegene Weiler des Karsts. „Düstere Echos im Wald. Worte wie ‚Es ist strengstens verboten’ verschrecken Rebhuhn und Reh. Ich fürchte, dass nur die Angst die Menschen begreifen lässt.“
Der Dramaturg Stefano Massini, künstlerischer Leiter des Piccolo Teatro, hat ein „Alphabet der Ansteckung“ geschrieben. Zum Beispiel A come Angoscia. ( = Furcht, Beklemmung): „Die Angst – italienisch paura – ist eine außergewöhnliche Waffe, die Mutter Natur uns gegeben hat, um einer objektiven Gefahr vorzubeugen.“ Angst habe man vor etwas, was man sehen könne. Angoscia, die Furcht, die Beklemmung dagegen sei das konfuses Gefühl, in einer Falle zu stecken. „Sie entsteht aus der Blindheit, der Verwirrung, aus dem ‚es könnte sein, vielleicht, wer weiß, kein Szenarium ist auszuschließen’. Es hebe die Hand, wer sich diesem Fall zugehörig fühlt.“
Die Schlange vor der Esselunga rückt langsam voran. Die Leute halten einen größeren Abstand als gefordert. Drinnen im Supermarkt: Guck an, es gibt wieder Einmalhandschuhe.
Wird fortgesetzt