ZWISCHEN DEN TRÜMMERN VON L’AQUILA


Die Kulturlandschaft der Abruzzen nach dem Erdbeben vom 6. April, die Ängste und Hoffnungen der Menschen und Berlusconis Liste für Hochzeitsgeschenke

Der zerstörte Regierungspalast von L'Aquila

Der zerstörte Regierungspalast von L’Aquila

L’Aquila (April 2009)- Die Seitenmauer der prächtigen Kirche ist aufgeplatzt wie nach einem Bombenangriff. Gesteinsbrocken liegen vor dem Längshaus von Santa Maria di Collemaggio, das Dach der dreischiffigen Kirche aus dem 13. Jahrhundert ist über der Apsis eingestürzt und durch ein Seitentor kann man ins Innere blicken: nichts als Trümmer, Säulenreste, geborstene Architraven. Der schwere Arm eines mächtigen Krans zieht eine Plattform heraus, auf der zwei Feuerwehrleute stehen, die eine Holzverschalung sichern. Die Plattform schwebt langsam auf den Platz vor dem Längshaus, wo Italiens Kulturminister Sandro Bondi umringt von Sicherheitsbeamten, Feuerwehrleuten, Denkmalschützern und Journalisten darauf wartet, dass die Plattform abgesetzt wird. Unter den Journalisten wird gerätselt, ob Ministerpräsident Silvio Berlusconi, der an diesem Tag eine der in Zelten eingerichteten Grundschulen eröffnet hat, sich auch zu dem Aufbau der Kulturgüter äußern wird. Kommt er oder kommt er nicht?

Ein Symbol der Hoffnung

Erst einmal kommt er nicht. Die Holzverschalung wird ohne ihn geöffnet und eine Madonna mit Kind kommt zum Vorschein, eine lebensgroße Terrakottagruppe eines heimatlichen Künstlers aus dem frühen 16. Jahrhundert. Bis auf Abbrüche an den Händen scheinen Mutter und Kind wohl auf. Der Minister zeigt sich über die gelungen Rettung gerührt. Ein Symbol der Hoffnung, nennt er das. Und auch die Fassade von Santa Maria di Collemaggio, eine der prachtvollsten Kirchenfassaden Italiens blieb unversehrt – sie war vor Monaten wegen Ausbesserungsarbeiten eingerüstet worden.

Hoffnung zu verbreiten, kommt in L’Aquila heute nach der materiellen Unterstützung gleich an zweiter Stelle. Denn die Stadt steht trotz aller wohlorganisierten Hilfe in der ersten Notstandsphase sichtbar unter Schock. Dazu gesellt sich die Angst, mit den Folgen des verheerenden Erdbebens allein gelassen zu werden, das in der Nacht vom 5. auf den 6. April rund um die Regionalhauptstadt der Abruzzen mit mehreren Stößen den Boden so erschütterte, dass die Mauern von Häuser, Kirchen, Stadtpalästen brachen, Dächer einstürzten, Straßenpflasterungen aufrissen. „Wir haben den Drachen gespürt, der unter uns durchgelaufen ist“, sagte eine Ärztin aus dem total zerstörten Weiler Onna vor den Toren von L’Aquila. Und ihr schaudert auch noch zwei Wochen danach vor dem tiefen, dunklen Grollen mit dem das Beben Menschen und Tiere aus dem Schlaf gerissen hatte. 295 Menschenopfer hat der Drachen bislang gefordert und in den Krankenhäusern der Region liegen noch über tausend, teilweise schwer Verletzte.

Der Reichtum einer Kulturlandschaft

Langsam wird auch der Schaden deutlich, den die Kulturgüter genommen haben. Sicher gehören die Abruzzen nicht zu den Topzielen des Kulturtourismus. In der Region gibt es keinen Giotto, der mit der Restaurierung seiner in Assisi zerstörten Fresken dem Erdbeben von Umbrien 1997 internationale Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Doch der Reichtum der italienischen Kulturlandschaft zeigt sich gerade in seiner Breite, die eine Region wie die der Abruzzen mit ihren Kirchen, Klöstern und historischen Ortskernen eindrucksvoll unter Beweis stellt. Rund 900 kulturhistorisch wertvolle Gebäude und Monumente scheinen in den direkt vom Erbeben betroffenen 49 Gemeinden rund um L’Aquila in Mitleidenschaft gezogen. Der Schaden ist noch gar nicht zu beziffern, für erste Aufbaumaßnahmen rechnet man mit rund 50 Millionen Euro, für die Sicherungen der betroffenen Gebäude hat jetzt die Regierung in Rom 15 Millionen Euro bereit gestellt.

Sicherheitsmaßnamen

Jetzt werden erst einmal Einzelobjekte wie Gemälde, Statuen, Schmuckgegenstände aus einsturzbedrohten Kirchen und öffentlichen Einrichtungen (wie dem Museo Nazionale d’Abruzzo im Forte Spagnolo) in Sicherheit gebracht. Archive werden umgelagert, Buchbestände evakuiert, Gebäude notdürftig gesichert. Die Kirchenkuppel von San Bernardino, die der von Brunelleschi vom Florentiner Dom verwandt ist, wurde zum Beispiel mit einem Ring umfasst. Die barocke Kuppel von Santa Maria del Suffragio, die den toten Seelen gewidmet ist, stürzte dagegen noch in der Erdbebennacht ein.

Das Teatro Comunale, ein hübsches Logentheater aus dem 19. Jahrhundert, hat schwer gelitten und bleibt vorerst ebenso unbenutzbar wie zwei andere Konzertsäle dieser so musikbegeisterten Stadt. Das gleiche gilt für die Kinos im Zentrum. Mehre Equipe, die man aus Wissenschaftlern und Technikern zusammengestellt hat, sind jetzt dabei, Gebäude für Gebäude zu untersuchen, Sofortmaßnahmen einzuleiten und ein Kataster des Unglücks zur erstellen. Das kann vor allem im Hinterland mit seinen versteckten Klosteranlagen, wo in diesen Frühlingstagen die aufblühende Natur im merkwürdigen Kontrast zur zerstörerischen Kraft des Erdbebens steht, noch Monate dauern. Auch weiß man noch nichts über den Zustand großer Privatsammlungen wie die Gemälde von Guercino, Tiepolo oder Bassano der Sammlung Pica Alfieri im gleichnamigen (und offensichtlich schwer zerstörten) Palazzo im Zentrum von L’Aquila.

Die Zeltstädte

Überall sind „Tentopoli“, Lager aus meist blauen Zelten entstanden, die von dem Zivilschutz, dem Roten Kreuz oder der Caritas verwaltet werden. So auch auf den Rasenanlagen vor Santa Maria di Collemaggio. Hier leben jetzt die Evakuierten, die ihre Häuser verloren haben oder einfach aus Angst vor weiteren Erdstößen nicht in ihre Wohnungen zurückkehren wollen. Denn die Erde bebt immer noch, wie sie auch Wochen vor dem 6. April gebebt hatte Der Kulturminister und seine Begleiter essen mit den Evakuierten und Helfern zusammen im Verpflegungszelt vor der Collemaggio-Kirche. Skepsis empfängt auch die Journalisten. „Solange die schweren Aufräummaschinen mit ihren Blaulichtern durch die Stadt fahren, schaut ihr noch hin,“ sagt ein junger Mann. Dann komme vielleicht noch der Papst am 1. Mai, „und dann bleiben wir allein.“

Als ein Einsiedler Papst wurde

Der Minister verspricht, immer wieder zu kommen. Die Kultur habe eine identitätsstiftende Aufgabe. Das Gotteshaus selbst, das auf einer kleinen Anhöhe des Stadtzentrums von L’Aquila so malerisch vor der Bergkulisse des schneebedeckten Massiv des Gran Sasso liegt, ist geradezu ein Symbol für die Abruzzen und ihre Kultur. Es ist eine der ältesten Kirchen der Stadt. Der aus den Abruzzen stammende Einsiedler Pietro del Morrone zog hier auf einem Eselsrücken reitend im August 1294 durch die Porta Santa, die „heilige Pforte“ ein und wurde in der Collemaggio-Basilika als Papst Coelestin V. gekrönt. Der bereits zu Lebzeiten im Ruf der Heiligkeit stehende Mönch dankte aber, von der Last des Amtes erdrückt, als bislang einziger Papst bereits wenige Monate später wieder ab. Dante verbannte ihn wegen der gleichsam feigen „vorzeitigen Aufgabe“ in seiner Divina Commedia an den Rand der Hölle.

An die Papstkrönung erinnert jedes Jahr am 28. August das Fest der „Perdonanza“. Dieses Vergebungsfest ist mit einem absoluten Sündenablass verbunden, wie ihn die katholische Kirche sonst nur zu heiligen Jahren kennt. So sahen es nicht nur viele Gläubige als ein gutes Zeichen an, dass jetzt die mumifizierte Reliquie des Mönch-Papstes aus den Trümmern der Kirche geborgen werden konnte. Zugleich hat man unter den Resten des zusammengebrochenen Stadtturmes den Behälter mit der Originalurkunde gefunden, in der Coelestin den Ablass gewährt. Maurizio Galletti, Leiter des örtlichen Denkmalschutzamtes für Architekturgüter, hofft auf eine wenigstens provisorische Wiederherstellung des erhaltenden Teils der Basilika, um das Vergebungsfest auch in diesem Jahr durchführen zu können. Angesichts der Zerstörungen der Kirche mag man daran zweifeln. Dass in L’Aquila überhaupt daran gedacht wird, unterstreicht die Bedeutung dieses Ortes.

Der Überlebenswillen der Region

Und noch ein Symbol steht für den Überlebenswillen der immer wieder von Erdbeben heimgesuchten Region um die Stadt L’Aquila, die aus dem Zusammenschluss von kastellartig geschützten Wohnanlagen ab 1229 entstanden ist – eine der wenigen antifeudalen Städtegründungen Süditaliens. Angeblich sollen es 99 solcher Kastelle gewesen sein. Und so soll L’Aquila auch eine Stadt mit 99 Plätzen, 99 Kirchen, 99 Stadtvierteln gewesen sein. Daran erinnert ein Brunnen, eine trapezförmige Waschanlage aus dem Jahr 1272, die nach einem Erdbeben im 15. Jahrhundert erneuert wurde. Sie ist mit 99 Masken geschmückt, aus deren Mündern das Wasser fließt. Der Brunnen ist zwar beschädigt, aber der italienische Umweltfond FAI hat bereits angekündigt, das Monument „adoptieren“ zu wollen und die notwendigen Finanzmittel für seine Restaurierung zu sammeln.

Nicht aufgeben – das ist auch die Botschaft des Historikers Guido Crainz, der in den Abruzzen an der Universität von Teramo unterrichtet. Crainz, der aus Udine stammt, hat 1976 als Kind das Erdbeben im Friaul miterlebt und es als Historiker untersucht. In Friaul haben das Erdbeben und die Zeit des Wiederaufbaus einen Identitätsschub ausgelöst. Der Ordnungsruf war, die betroffenen Orte und ihre Gebäude so wieder aufzubauen, wie sie waren. Schnell wieder aufzubauen. Doch man müsse sich, so Crainz in einem Interview mit der Regionalzeitung Il Centro trotzdem die Zeit nehmen, auch gründlich nach allen statischen Gesichtspunkten „erdbebensicher“ wieder aufzubauen. Und man dürfe nicht die mediale Aufmerksamkeit einschlafen lassen. Nur durch eine wache Öffentlichkeit auch in den Monaten, vielleicht Jahren des Wiederaufbaus lasse sich eine Rekonstruktion garantieren, die den Traditionen und lokalen Kulturen gerecht werde. Und zugleich die Verschwendung von öffentlichen Geldern verhindern, die, wie beim Erdbeben von 1980 in Irpinia und Neapel, in dunklen Kanälen und obskuren Projekten versickern könnten.

Dann kommt „er“

Der Minister und sein Tross sind inzwischen vor der Kirche San Bernardino ankommen. Der Gründers des Observanten-Ordens liegt hier begraben. An Kränen hängend arbeiten Hilfskräfte an der Kuppel. Die monumentale Marmorfassade aus der Hochrenaissance, die sich über einer großen Freitreppe erhebt, scheint geradezu in den Himmel zu wachsen. Wie durch ein Wunder ist sie unversehrt.
Und dann kommt „er“.

Ein silbergrauer Audi, von zwei Polizeifahrzeugen eskortiert, prescht heran. Silvio Berlusconi, braun gebrannt und mit frisch getöntem Haar, springt heraus, Fernsehkameras stürzen sich auf ihn. Der Ministerpräsident, dunkelblauer Anzug, Rollkragenpullover, begrüßt fröhlich die Anwesenden. Doch die Medien sollten sich jetzt zurückziehen, „lasst uns erst einmal arbeiten.“ Er dreht sich um und setzt sich auf die Stufen der Oberservanten-Kirche. Um ihn herum gruppieren sich Denkmalschützer, der Bürgermeister der Stadt, der Kulturminister, eine junge Abgeordnete der Regierungspartei, der Leiter des Zivilschutzes und andere, während Polizisten die Journalisten abdrängen.

Eine Liste für Hochzeitsgeschichte

Die Arbeitssitzung auf den Stufen vor San Bernardino dauert exakt vier Minuten. Dann ruft Berlusconi die Medienvertreter wieder heran, fährt sich mit einem Kamm durch die Haare, die Handscheinwerfer der Fernsehteams flammen auf und der Regierungschef erklärt sein Programm. Italien habe bewiesen, dass es aus eigener Kraft den Notstand bewältigen könne. Aber Hilfe sei immer willkommen, deshalb habe er „seinen“ Kulturminister angewiesen, eine erste Liste mit 38 Kulturobjekten aufzustellen, die dringend restauriert werden müssten. Er werde diese Liste im Ausland bekannt machen, und Freunde Italiens könnten dann ein oder mehre Kunstwerke dieser Liste „adoptieren“ und deren Restaurierung finanzieren. Es sei eine Art „lista di nozze“, eine Wunschliste für Hochzeitsgeschenke, ruft er noch den Journalisten zu, bevor er wieder gut gelaunt in seinen Audi springt. Und die Fahrzeugkolonne des Ministerpräsidenten verschwindet zwischen den Trümmern von L’Aquila.

 

In gekürzter Form erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 20.4.2009