ZWISCHEN SEIDE UND MASCHINEN


Italien entdeckt mit einer Ausstellung in Bologna die expressionistische Fotowelt von Jakob Tuggener

copyright Stuftung Tuggener/Mast

„Ohne Titel“ – Impressionen aus der Arbeitswelt von Jakob Tuggener

Bologna (bis 17.4.) – Unter den bedeutenden Fotografen des 20. Jahrhunderts ist der Schweizer Jakob Tuggener (1904-1988) der große Unbekannte. Sein Werk durchziehen so unterschiedliche Themenbereiche wie das Arbeitsleben in der Fabrik oder die Luxuswelt auf Ballveranstaltungen der Oberschicht. Eigenwillig und starrköpfig hatte sich Tuggener sein Leben lang von der Ausstellungsszene und der Verlagswelt ferngehalten. Zu Lebzeiten veröffentlichte er mit „Fabrik“ (1943) einen einzigen Fotoband. Ohne Folgen blieben Ausstellungserfolge am Museum of Modern Art in New York (1955) oder in München (1969). Nach seinem Tod entwickelte sich ein zäher Streit um sein Erbe. Seit wenigen Jahren wird die Bedeutung des Fotografen aus Zürich, der expressionistische Einflüsse mit der Industriefotografie zu verbinden wusste, langsam auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Bei Steidl (Göttingen) erschien 2012 ein Reprint seines Fabrik-Bandes. In der Foto-Gallery des Kulturzentrum MAST von Bologna ist gerade eine Ausstellung unter dem Titel „Jakob Tuggener Fabrik/Nuits de Bal“ zu sehen.

copyright Stiftung Tuggener/Mast

Ungarischer Ball, Grand Hotel Dolder, Zürich 1935

Es ist eine Welt „zwischen Seide und Maschinen“, wie Tuggener es selbst einmal formuliert hatte. Mit viel Liebe zum Detail erzählt der Fotograf viele kleine Geschichten in Bildern oder Fotosequenzen, die wie Kurzfilme wirken. Vom Champagnerseligkeit oder dem diskreten Auftritt der Kellner. Von der Säuberung eines Heizkessels oder den Botengängen einer Angestellten. Zwischen Eisenbolzen steckt eine halbleere Zigarettenschachtel. Überraschende Perspektiven füllen soziale Dokumente mit Poesie. Der ausdrucksvolle Aufbau seiner Fotos aus dem Dunkel heraus weist auf den Kenner expressionistischer Stummfilmtechnik hin.

In Berlin auf der Reimannschule

Als technischer Zeichner lernte Jakob Tuggener bereits in der Lehre den Fabrikalltag kennen. Als er in der Wirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre seine Anstellung verlor, erfüllte er sich einen Jugendtraum. Künstler wollte er werden. In Berlin besuchte er die Reimannschule, die damals bedeutendste Privatschule für angewandte Kunst in Deutschland, wo er kleine Filme drehte aber vor allem seine Begabung für die Fotographie entdeckte. Zurück in der Schweiz erhielt er Aufträge unter anderem für den Gleichrichter, die Firmenzeitschrift einer Maschinenfabrik in Oerlikon. Das Unternehmen wollte mit der internen Veröffentlichung die kulturelle Kluft zwischen den Arbeitern, Angestellten und der Leitung überbrücken. Hier entstanden die ersten Fotos für den Fabrikzyklus, der auch den Schwerpunkt der Ausstellung in Bologna bildet, die Urs Stahel und Martin Gasser kuratiert haben. Zu sehen sind 150 Fotos, eine Slide-Show mit Bildern der Ballnächte und einige Kurzfilme. Arbeiten der Fotostiftung Schweiz (Winterthur), wo auch das Archiv der Jokob-Tuggener-Stiftung (Uster) aufbewahrt wird.

copyright Stiftung Tuggener/Mast

ACS Ball, Hotel Dolder, Zürich 1948

Etwa gleichzeitig mit dem Auftrag für den Gleichrichter begann Tuggener Ballveranstaltungen in Zürich und St. Moritz zu besuchen. Bereits in Berlin hatte er sich von rauschenden Ballnächten faszinieren lassen. Mit Smoking und Laica sammelte er jetzt Material für einen zweiten Fotoband. Klagedrohungen von Teilnehmern verschreckten Verleger und verhinderten die Veröffentlichung. Der Band konnte erst posthum erscheinen. Ähnlich wie den Fotos aus der Arbeitswelt gab Tuggener die Welt der Dekolletees und Zigarettenspitzen, der Blicke und Posen, eine ganz persönliche, gleichsam komplizenhafte Note. Die steigert jedoch die enthüllende Wirkung dieser meist grobkörniger Fotoarbeiten um so mehr. Jakob Tuggener hat sich immer gegen die gewehrt, die ihn als reinen Sozialkritiker einvernehmen wollte. Er fühlte sich als „Künstler“, der die Extreme liebte. Licht und Schatten, Arbeit und Vergnügen.

Privater Raum öffnet sich zur Stadt

Mit dieser Ausstellung ist nicht nur ein Fotograf, sondern auch eine Kultureinrichtung zu entdecken. Zwei junge römischer Architekten (Claudia Clemente und Francesco Isidori) haben sie für die Industrieholding Coesia (Verpackungsmaschinen u.a.) am Stadtrand von Bologna unweit von Fertigungsanlagen des Unternehmens errichtet. Unter der Bezeichnung Manifattura di Arte, Sperimentazione e Tecnologia (MAST) – Manufaktur für Kunst, Versuchswesen und Technologie – vereint es einen Kindergarten, eine Mensa und ein Wellnessbereich für die Angestellten mit einem Fortbildungszentrum, einem Auditorium, einem Restaurant und großen Ausstellungsflächen. Privater Raum öffnet sich zur Stadt. Und die Welt der Arbeit sucht hier mit der der Kunst Synergien. Die Ausstellung der Fotos von Jakob Tuggener hätten in Italien keinen besseren Rahmen finden können. Man hätte ihr nur einen ausführlicheren Katalog statt einer dünnen Broschüre (Electa) gewünscht.

Jakob Tuggener – Fabrik/Nuits de Bal. MAST, Bologna. Bis 17.4.

copyright Stiftung Tuggener/Mast

Arbeit im Heizkessel, 1935