EIN DRAHTSEILAKT


Biennale (1): Die 57. Kunstbiennale von Venedig feiert die Kunst der Gegenwart als einen neuen Humanismus. Vertreten sind vor allem junge, oft unbekannte Künstlerinnen und Künstler. Doch ein alter Hase wie Franz Erhard Walther aus Fulda wurde mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet

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Wenn Gräser im Schuh wachsen – eine Arbeit von Michel Blazy aus Montecarlo

Venedig (bis 26.11.) Wohin geht die Kunst? Sie überquert Abgründe. Eine Videoarbeit von Taus Makhacheva, eine 34jährige Künstlerin aus Dagestan, bringt diese Biennale auf den Punkt. Sie zeigt wie ein Hochseilartist über ein Drahtseil balanciert, das unter freiem Himmel zwischen zwei eng nebeneinander liegenden Gebirgskuppen gespannt ist. Er bringt Gemälde von einem offenen Lager auf der einen Kuppe in eine geschlossene Struktur auf der anderen. Dafür hängt der Artist jeweils ein Bild an die äußeren Enden seiner Balancierstange. So gleichsam mit höchstem Risiko spielerisch transportiert er im Video „Tightrope“ rund 58 Minuten lang die Kunst von einer zu anderen Seite.

Viva Arte Viva – Ein Vivat der lebendigen Kunst – ist der Titel der 57. internationalen Kunstbiennale von Venedig, die seit dem 13. Mai geöffnet hat. Die 48jährige Pariserin Christine Macel hat die Hauptausstellung eingerichtet. Nachdem vorangegangene Biennalen eindeutig thematisch bestimmt waren – zur politischen Kunst etwa die von Okwui Enwezor 2015 – gibt jetzt kein Thema, sondern ein Motto den Ton an.

Ein neuer Humanismus

Lebendige Kunst gilt der Kuratorin als Ausdruck eines neuen Humanismus. Mit Nachdenklichkeit und Kreativität, mit individuellen Ausdrucksformen und dem Ruf nach Freiheit widersetzt er sich einer Welt voller Konflikte und populistischer Wallungen. Dafür hat Christine Macel vorwiegend junge, oft unbekannte Künstlerinnen und Künstler eingeladen, sie greift aber auch Arbeiten von älteren zurück. Von 120 Teilnehmern sind 103 zum ersten Mal in Venedig dabei. So „neu“ war eine Biennale noch nie. Szene-Vips wie Olafur Eliasson (mit einem eher langweiligen Workshop zum Bau von Öko-Lampen) bleiben eine Minderheit.

Das ist ein Spiel mit Endeckungen und Wiederentdeckungen. Wie die mit einer Mischtechnik hergestellten Bilder von Kiki Smith (USA), in der sich eine zerbrechliche und zugleich energiegeladene Welt des Weiblichen spiegeln. Michel Blazy (Montecarlo) bepflanzt spielerisch Sportschuhe mit Blumen und Gräsern.

Goldener Löwe für Franz Erhard Walther

Ganz anders wirken die Arbeiten der Deutschen Irma Blank, die 1934 in Celle geboren wurde, auf der documenta 6 (Kassel 1977) vertreten war und heute in Mailand lebt. Sie beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Verhältnis von Kunst und Schrift. In Venedig sind Schriftgrafiken ohne Buchstaben und Wörter der Serie „Eigenschriften“ ausgestellt. Aus Deutschland sind außerdem Arbeiten von Michael Beutler (geboren 1976), Andy Hope (1963), Fiete Stolte (1979) und Franz Erhard Walther (1939) zu sehen. Walther, der in Fulda lebt und arbeitet, wurde für seinen Auftritt u.a. mit „Wallformation“ – halb Skulptur, halb Wandmalerei – mit dem goldenen Löwen ausgezeichnet. Darüber hinaus lebt und arbeitet ein gutes Dutzend der von Christine Macel eingeladenen Künstler in der Bundesrepublik (zumeist in Berlin).

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„Wallformation“ (1983/1986) von Franz Erhard Walther, der mit einem goldenen Löwen ausgezeichnet wurde

Die Kuratorin hat ihre Reise durch die internationale Künstlerwelt in neun Abteilungen gegliedert, die sie „Trans-Pavillons“ nennt. Das reicht vom „Pavillon der Künstler und der Bücher“ bis zum „Pavillon der Zeit und der Unendlichkeit“. In diesen Ensembles tauchen etwa Themen der Öko-Kunst auf, es geht um soziale Beziehungen oder um die in die Gegenwart wirkenden Traditionen. Ein „dionysisch“ genannter Raum feiert den Körper der Frau, wie ihn vor allem Künstlerinnen aus Kuba oder Frankreich, den USA, Irland (eindrucksvoll: die 37jährige Mariechen Danz) oder der Schweiz (die 1933 verstorbene Heidi Bucher) sehen.

Otium e negotium – kein Schaffen ohne Ruheprozess

Christine Macel legt dabei Wert auf den kreativen Entstehungsprozess und lässt ganze Werkstätten einrichten. Oder betont die Dialektik von „otium e negotium“, also der für eine Schöpfungsphase notwendigen Ruhe und dem künstlerischen Arbeitsprozess. So stehen wir andächtig vor dem Bett des schlafenden Künstlers – eine Arbeit aus Kazakistan. Und eine von der Kuratorin eingerichtete „Tavolo aperta“ lädt in den kommenden Wochen jeweils eine kleine Zahl von glücklichen Besuchern ein, zusammen mit einem Künstler am Tisch zu sitzen, zu essen und zu plaudern.

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„The Artist is Asleep“ (2008) von Yelena Vorobyeva un Viltor Vorobyev aus Kazakistan

Der Überblick durch die große bunte Welt der Gegenwartskunst, den Christine Macel und ihre Mitarbeiter der Biennale in vielen Monaten der Vorbereitung aufgebaut haben – und den die Kritiker in wenigen Stunden durchlaufen – setzt sich ungeordnet in den 86 Länderbeitragen und vielen Nebenveranstaltungen fort. Im französischen Pavillon erlebt man musikalische Installationen in einem Raum nach dem Vorbild von Schwitters Merzbau. Mit groben Leinen bespannte Skulpturen wachsen riesig bis unter das Dach der Briten.

Die Italiener überzeugen

Collagen, abstrakte Arbeiten und viele Objekte, die vom sozialen Alltag aus Los Angeles erzählen, bestimmen den Auftritt im Pavillon der USA. Überraschend kritisch geben sich die Russen mit Installationen zur Beherrschung der Welt durch diktatoriale Gewalt. Die Chinesen knüpfen teilweise bitter ironisch an traditionelle Kunstformen an. Schwarz und weiß geben sich in Südafrika die Hand. Zum ersten Mal dabei ist Nigeria mit Malarbeiten, Filmen, Installationen und einer Tanzperformance. Und die Italiener können endlich einmal wieder mit einem Auftritt überzeugen, bei dem es unter anderen mit einer „Imitatio Christi“ darum geht, Ikonen des verstorbenen Christus herzustellen, dessen Körper jedoch einem Verwesungsprozess unterworfen wird, je oft man versucht, ihn zu reproduzieren. Und in kleinen Kreisen diskutiert man, warum ein deutscher Kulturmanager den Auftritt des autoritär regierten Aserbaidschan kuratiert.

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„Imitatio Christi“ von Roberto Cuoghi (2017) im italienischen Pavillon

Wer glaubt, dass die Kunst damit in Venedig ein Ende hat, kennt die Lagunenstadt nicht. Kaum ein Palazzo dieser vom Tourismus geplagten Stadt und ihrer morbiden Kulissenwelt, die die Einwohner mehr und mehr fliehen, in dem nicht irgendeine Ausstellung gezeigt, irgendein Auftritt zelebriert wird. Von öffentlichen Einrichtungen wie der Ca’ Pesaro, über die internationale Stiftung der Peggy Guggenheim bis hin zur Fondazione Prada.

Wo man die Welt neu denken kann

Mit ganz großer Geste treten etwa der Palazzo Grassi und die Punta della Dogana, Einrichtungen des französischen Multimilliardärs François Pinault, auf. Hier zelebriert gerade Damien Hirst ein Schaustück, an dem er angeblich zehn Jahre lang gearbeitet hat. Er erfindet sich die Saga von der Entdeckung eines antiken römischen Schiffwracks und einer Ladung voller Kunst auf dem Meeresboden. Und schafft in „Treasures from the Wreck of the Unbelievable“ eine nachgebildete Welt voller Statuen und Büsten aus der Geschichte der Antike bis hin zu ironischen Brechungen mit Donald-Duck-Figuren. Einfach unglaublich.

Diese pompöse Ausstellung, die sich ganz an Markt und medialer Wirkung orientiert, unterstreicht durch ihre Gegensätzlichkeit den vollkommen anderen Ansatz, den die Biennalen mit ihrer experimentellen Suche nach dem Alternativen, dem Unangepasstem und dem Unbequemen in der Kunst der Gegenwart alle zwei Jahre mit
(zugegeben wechselndem) Erfolg leisten. Es ist auch diesmal ein Drahtseilakt, bei dem Abstürze in Kauf genommen werden müssen, aber ebenso Neugier und Hoffnung geweckt werden. Denn obgleich die Kunst nicht die Welt verändere, so Christine Macel , „bleibt sie ein Ort, wo man diese neu denken kann.“

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Kuschelige Farbenpracht – eine Installation von Sheila Hicks aus den USA

Informationen zur Biennale

Viva Arte Viva. 57. Esposizione Internazionale d’Arte. Arsenale, Giardini und andere Orte von Venedig bis 26.11.2017. Tgl. 10-18 Uhr. Eintritt 25 Euro (über 60 Jahre 20 Euro, unter 26 Jahre 15 Euro). Kuratorin: Christine Macel. 86 Länderbeteiligungen, 23 Nebenveranstaltungen. Der Deutsche Pavillon, den Anne Imhof bespielt – siehe Beitrag – wurde im Auftrag des Auswärtigen Amtes von Susanne Pfeffer kuratiert. Auszeichnungen: Goldener Löwe fürs Lebenswerk an Carolee Schneemann (USA), für den besten Länderpavillon an Deutschland sowie für den besten künstlerischen Beitrag an Franz Erhard Walther (Deutschland), zudem ein Silberner Löwe für die beste Arbeit eines Nachwuchskünstlers an Hassan Khan (Ägypten). Katalog (2 Bd.) 85 Euro, Kurzführer 18 Euro jeweils italienisch oder englisch.
Info tel: +39 041 5218 828, web: www.labiennale.org

 

Ein ähnlicher Beitrag wurde in der Stuttgarter Zeitung vom 13./14. Mai veröffentlicht.

Zur Biennale 2017 siehe außerdem: Unterwegs In Venedig