Ein Gespräch mit Paolo Rumiz, der den Po von ersten Stromschnellen bis zur Mündung in die Adria auf dem Wasser abgefahren hat. In dem Buch „Die Seele des Flusses“ erzählt er von seiner abenteuerlichen Reise durch ein unbekanntes Italien.
Mailand / Porto Tolle – Der längste Fluss Italiens ist der Po. Rund 650 Kilometer liegen zwischen seiner Quelle am Monviso in den piemontesischen Alpen und der Mündung in die Adria, wo er sich zwischen Porto Viro und Volano in sechs Arme und unzählige Kanäle verzweigt. Der Journalist und Buchautor Paolo Rumiz ist ihm zusammen mit einer kleinen Gruppe von Freunden von den Stromschnellen bei Staffarda an – 40 Kilometer unterhalb der Quelle – bis zum Meer auf dem Wasser gefolgt. In dem mit vielen Karten und Fotos liebevoll aufgemachten und einfühlsam übersetzen Buch „Die Seele des Flusses“ (Folio Verlag) erzählt Rumiz von einer Reise durch ein unbekanntes Italien.
Paolo Rumiz und seine Begleiter hatten die teilweise abenteuerliche Reise in mehreren Abschnitten und mit mehreren Bootsarten – von Kanu bis zum Segelboot – im Jahr 2012 zurückgelegt. Daraus war zunächst eine Artikelserie für die Tageszeitung la Repubblica entstanden, später das Buch „Morimondo“ (Feltrinelli 2013), das von Karin Fleischanderl übersetzt wurde. Jetzt traf sich Paolo Rumiz mit deutschsprachigen Journalisten bei einer Bootsfahrt durchs Delta.
Wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen. Das gilt wohl besonders für eine Reise auf dem Po?
Paolo Rumiz: „Wir haben diese Reise wie ein Abenteuer à la Indiana Jones erlebt. Der Fluss ist auf außergewöhnliche Weise vereinsamt, obgleich er durch eine der meist industrialisierten Gebiete von Europa führt. Es fehlt nicht viel und man könnte auf ihm Piraten treffen. Aber es gibt Illegalität, was der Reise auch ein bisschen Spannung verliehen hat. Doch vor allem herrschte Freiheit. Fast überall konnte man sein Zelt zum Übernachten in aller Freiheit aufschlagen, auf jeder Insel Feuer machen, wie in einer Erzählung von Mark Twain. Der Fluss ist ein Ort, an dem man aus der Zivilisation aussteigen kann. Wenn ich vor Schülern von dieser Reise erzähle, dann sage ich ihnen: Ihr wollt Abenteuer erleben? Gut, dann schnappt euch ein Kanu oder nehmt euch ein Segelboot und macht euch den Po zu eigen.“
Wie erlebt man denn die Nächte am Po?
„Wenn du das Zelt aufbaust am Ufer, bist du meistens allein. Und dann siehst du ab und zu merkwürdige Boote ohne Lichter vorbei gleiten. Du hörst das Plantschen des Wels, das ist ein Bestie von Fisch, der bis zu drei Meter lang und bis zu 100 Kilo schwer werden kann. Du kannst eine Herde Ochsen heranziehen hören, die zum Trinken kommen. Und es gibt viele, viele weitere geheime Geräusche, die die Nacht füllen. In den Nächten am Po schläft man wenig. Man wird völlig von der Einmaligkeit dieser Töne gefangen, die man nicht gewohnt ist zu hören.“
Und der Fluss selber, hat er eine Melodie?
„Der Po verändert seine Tonlage je nach Gegend. Er lässt ein leises Murmeln an den ruhigen Stellen und in versteckten Mäanderungen hören. Er kann aber auch donnern, wenn er zum engen Kanal wird. Nachts zeigt er manchmal eine wuchtige Stimme, wie ein Kontrabass, dessen Spiel dich die ganze Nacht begleitet. Und am Ende, wenn er sich in viele Arme des Deltas wie in einen Fächer verzweigt, dann wird der Fluss zu einer Symphonie. Er spürt die Nähe des Meeres, spürt den Einfluss des Mondes und der Gezeiten. Es setzt eine beeindruckende Metamorphose ein: Du hörst den Tod des Flusses – und wie er in den Wellen des Meeres in neuer Gestalt wieder geboren wird.“
Eine Straße schmutziger Geschäfte
Es gibt Illegalität, erzählen Sie, verdunkelte Schiffe tauchen auf. Das hört sich an wie ein Krimi.
„Sicher. Die italienischen Gewässer sind ein großer Freiraum, in dem jeder machen kann, was er will. Das gilt für den intelligenten Reisenden wie für den intelligenten Kriminellen. Waffen, Drogen, Prostitution – der Po ist auch eine Straße schmutziger Geschäfte, was praktisch keiner wahrnimmt. Unsere Polizei ist zusammen mit den Hafenkommandaturen immer schnell da, wenn es an den Küsten etwas bei Motoren oder an den Booten zu monieren gibt und Strafmandate verteilt werden können. Aber auf dem Fluss sieht man sie nicht. Auch weil der Fluss vielleicht zwei Landkreise oder Regionen trennt und nicht klar ist, wer genau zuständig sein soll. Wenn man sich schließlich geeinigt hat und eingreifen will, sind die Übeltäter längst verschwunden.“
Wie geht es dem Fluss ökologisch?
„Auf so einer Fahrt wechseln Augenblicke der Verzauberung über die unglaubliche Schönheit der Landschaft mit Augenblicken der Empörung über das, was wir dem Fluss antun. Viele haben mir von der Reise abgeraten, der Po sei verschmutzt, eine Kloake. Als wir ihn abfuhren, haben wir Situationen vorgefunden, die oft besser waren, als wir uns das erwartet hatten. Sicher gibt es starke Verschmutzungen. Aber ebenso sicher ist: Wenn man den Fluss in Ruhe lässt, reinigt er seine Wasser selbst. Das konnten wir zum Beispiel kurz hinter Turin erleben. Das Wasser wird durch Sand und Kies gefiltert. Dadurch bekommt der Fluss für mich etwas Weibliches, er nimmt sich der Sünden der Menschen an, wäscht sie ab und gibt eine verlorene Reinheit zurück. “
Nach einer Weile fangen Sie an, mit dem Po zu reden. Und irgendwann verliert der Fluss seinen Artikel und ‚der Po’ wird nur noch zu ‚Po’.
„Ja, der Po wird zu einer Art Person. Ich gewann eine richtige Einstellung zu dieser Reise erst, als ich begriff, dass der Fluss nicht einfach ein Teil der Landschaft ist, sondern eine Kreatur, mit der ich kommunizieren konnte. So wie die Völker der Vorgeschichte sich mit der Natur auseinander setzten und die Natur als beseelt verstanden. Der Fluss verwandelte sich ja für mich in eine weibliche Kreatur. Viele italienische Flüsse hatten einen weiblichen Namen, bevor man sie mit dem Artikel ‚der‘ vermännlichte und so das Geschlecht über die Individualität des Flusses siegte.“
Zum Beispiel?
„Der eklatanteste Beispiel liefert der Piave-Fluss. Man sagte ‚la Piave’, die Piave. Nun ist das der Fluss des italienischen Widerstands 1917/18 am Ende des Ersten Weltkrieges, wo der Vormarsch der Österreicher gestoppt werden konnte. So hat man ihn nach dem Krieg ‚il Piave’, den Piave genannt, denn der Fluss des Vaterlandes konnte nicht weiblich sein. Der Nationalismus dekliniert sich immer männlich.“
Von den Bewohnern ignoriert
In dem Buch wird eine Reise durch ein „unbekanntes Italien“ beschrieben, warum dieser Untertitel?
„Die Italiener haben ihre Beziehung zum Wasser verloren. Sie wissen auch nicht mehr, dass sie auf einer Insel leben, der größten Insel des Mittelmeers. Aber abgesehen davon haben sie den Gebrauch des Wassers, die Vertrautheit, das Spiel mit dem Wasser und die Nähe zum ihm verloren. Die Mütter halten die Kinder vom Wasser fern, weil es angeblich schmutzig sei. Der größte Fluss von Norditalien, von ganz Italien, wird von den Bewohner selbst ignoriert, die hinter seinen Deichen wohnen. Es ist mir öfters passiert, dass ich etwa in Orten der Lombardei oder des Piemonts Menschen getroffen habe, die noch nie am Fluss gewesen waren, auch wenn sie nur zwei oder drei Kilometer entfernt wohnten. Es gibt heute eine Art nationale Gewässerphobie in Italien. Vor 100 Jahren war das anders.“
Der Grund dafür?
„Wir haben unsere Hirne im Zuge der automobilen Revolution verändert. Wir bewegen uns nicht mehr auf Wasserstraßen. Wir haben die zwei wichtigsten Verkehrswege verdrängt, die zur nationalen Einheit Italiens geführt haben: die Wasserwege und die Eisenbahnen.“
Der Po zeigt sich auf der Reise immer wieder verändert, in unterschiedlichen Bildern, neuen Situationen. Und doch verstehen Sie ihn als Ganzes?
„Ja, als Einheit. Merkwürdig nur, dass die Leute, die direkt an ihm wohnen, ihn als Abschnitt verstehen. Jeder lebt sein Stück vom Fluss. Sie sehen im Po nicht eine große ganze Kreatur. Alle wunderten sich, dass wir mit unserem Kanu oder unserem Segelboot von so weit her kamen und wieder weiter wollten. Sie waren erstaunt, dass wir diese Vision von einem Fluss als Ganzes von der Quelle bis zur Mündung hatten.“
Wo Fisch aus dem Fluss gut zubereitet wird
Sie haben sich vor dieser wie vor anderen Reisen eine Karte angefertigt. Zu welchem Nutzen?
„Ich habe viele Unternehmungen für meine Zeitung ‚la Repubblica’ unternommen, die es mir ermöglicht hat, das zu tun, von dem ich immer geträumt habe: zu reisen nämlich. Für diese Reisen habe ich mir angewöhnt, jedes mal eine Karte vorzubereiten. Das ist eine Art, Aufzeichnungen zu rationalisieren. Ich schreibe alle interessanten Punkte auf, die ich beim Reiseverlauf zu finden hoffe. Die Karte dient nicht dazu, um mich zu orientieren, sondern um mich vorzubereiten. Beim Verlauf der Reise wird sie dann erweitert, wenn ich Leute treffe, die mich auf weitere interessante Punkte hinweisen. Also die Karte hilft mir auch, in Kontakt mit Anwohnern zu kommen, die Tipps geben. Auf alles mögliche, auch auf eine Osteria, wo Fisch aus dem Fluss besonders gut zubereitet wird. Das war eine Karte drei Meter lang und gefaltet wie eine Ziehharmonika. Am Ende der Reise über den Po hatte ich rund 1400 Notierungen.“
Und die Karte ist gestohlen worden?
„Leider. Man hat mir später meinen Rucksack geklaut, als ich mit der Eisenbahn unterwegs war. Darin waren die Karte enthalten und andere lieb gewordene Dinge. Aber zum Glück hatte ich die Karte vorher fotografiert. Ich habe insgesamt rund 20 solcher Karten von den unterschiedlichsten Reisen und denke mal daran, sie in einem Buch zu veröffentlichen. Das wäre auch ein Buch über eine andere Art zu reisen abseits vom Massentourismus.“
Gegen Ende der Reise werden Sie allerdings der Bücher müde, die Sie dabei haben.
„Ja, die Reise auf einem Fluss ist, wie gesagt, eine gleichsam symphonische Erfahrung, während der das geschriebene Wort immer weniger zählt und das gesprochene Wort, die Stimme, der Ton wichtiger werden. Ich habe bei mir in den vergangenen Jahre eine Veränderung festgestellt. Ich glaube immer mehr an den mündlichen Ausdruck und immer weniger an den schriftlichen. Allerdings ist mir klar, dass man das Mündliche mit Schrift festhalten muss, um zu verhindern, dass es verschwindet. Aber ich glaube, kein Buch kann je das ausdrücken kann, was einer mündlichen Erzählung gelingt, wenn man in die Augen des Erzählers blicken kann, den Ton seiner Stimme hört, die Gesten sieht, die er benutzt.“
Augenblicke mit Gänsehaut
Gibt es unter den vielen Eindrücken auf dem Po einen, der besonders haften geblieben ist?
„Es gab so viele unglaublich wechselhafte Augenblicke und Eindrücke. Einer von ihnen, vielleicht der schönste, trug sich am Ende des piemontesischen Abschnitts in der Gegend um Casale Monferrato zu. Wir ruderten auf venezianische Art, das heißt stehend mit dem Blick in Fahrtrichtung. Und in der Dämmerung sahen wir hinter unserem Rücken die Schneegipfel des Monte Rosa. Das war irgendwie unglaublich. Der Himmel war noch rosa, der Fluss jedoch bewegte sich bereits auf die Dunkelheit zu, auf die Farben der Nacht, ein Türkisblau, das immer grauer wurde. Und dazu erklang das Konzert der Kieselsteine, die von der Strömung angetrieben unter dem Kiel des Bootes vorwärts rollten. Hinter uns die Berge und am Ufer eine Folge von Kirchtürmen, die sich verschoben, je weiter wir kamen. Das sind Augenblicke mit Gänsehaut.“
Und jetzt stehen wir hier am Ende des Deltas und gucken auf das Meer.
„Das ist ein wunderschöner Punkt für die Ende einer Reise, denn der Tod des Flusses verwandelt sich in eine Neuschöpfung durch das Meer. Du stehst vor dem großen Meer mit der unglaublichen Lust, weiter zu reisen. Das ist die Metamorphose des Flusses, aller Flüsse. Aber hier blicken wir zudem nach Osten, wo die Sonne jeden Morgen einen neuen Tag werden lässt.“
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Das Gespräch wurde in Zusammenarbeit mit Katharina Wagner (ORF, Rom) und Jan-Christoph Kitzler (ARD, Rom) am 26. April 2018 im südlichen Teil des Po-Deltas an der Spiaggia Bacucco geführt.
Paolo Rumiz, geboren 1947 in Triest, hat Reportagen über unzählige Reisen auch in Krisengebiete wie Afghanistan oder beim Jugoslawienkrieg verfasst. Zuletzt ist von ihm ein Buch über die Via Appia (Feltrinelli 2015) erschienen. Auf Deutsch liegt vor: „Der Leuchtturm“ (Folio 2017). Der Autor engagiert sich zudem bei sozialen und kulturellen Projekten wie dem European Spirit of Youth Orchestra (Triest).
Paolo Rumiz: Die Seele des Flusses. Auf dem Po durch ein unbekanntes Italien. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Folio Verlag, Bozen und Wien. 319 Seiten, 24 Euro
Hier der Trailer zum Film „Il risveglio del fiume segreto. In viaggio sul Po con Paolo Rumiz“, den Alessandro Scillitani, ein Reisebegleiter, gedreht hat.
Siehe auch den Beitrag „Reiseerzählungen über den Po“ im Deutschlandfunk (Sonntagsspaziergang 14.10.18)
Wie das Delta Filmgeschichte geschrieben hat – auf Cluverius der Bericht über die Ausstellung “Cinema!” in Rovigo.