DAS SCHWEIGEN BEWAHREN


Zur Erinnerung an den Anthropologen und Schriftsteller Giulio Angioni

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Giulio Angioni 1939 – 2017

Mailand/ Cagliari – Die Beschäftigung mit sich selbst ist für eine Gesellschaft, die auf einer Insel lebt, eigentlich selbstverständlich. In Sardinien kommt ein Bruch mit der eigenen Geschichte hinzu, einer Geschichte, die sich tausend, zweitausend Jahre nicht, oder nur wenig bewegt hatte. Der Anthropologe und Schriftsteller Giulio Angioni, der 1939 in Guasila (Provinz Cagliari) auf die Welt kam, erzählt, er habe noch eine Jugend erlebt, „die näher an der Jugendzeit vor tausend oder zweitausend Jahren war als an der von heute.“ Mit diesem Bruch zwischen Geschichte und Gegenwart muss sich jeder Schriftsteller auf Sardinien auseinandersetzen, wie Angioni auch in einem brillanten Essay schreibt, der dem Fotobuch von Marianne Sin-Pfältzer: Sardinien. Menschliche Landschaften (Ilisso Edizioni, Nuoro 2015) vorangestellt ist.

Giulio Angioni hat diese Auseinandersetzung in einer Reihe von Romanen, Erzählungen und auch in Texten für das Theater geführt. Es ist merkwürdig, aber keines seiner spannend zu lesenden Bücher ist bislang ins Deutsche übersetzt worden. „L’Oro di Fraus“ (1998) handelt zum Beispiel von der hartnäckigen Suche eines Bürgermeisters nach den Hintergründen eines Todesfalles, für den ein Homosexueller fälschlich verhaftet wird und sich aus Verzweiflung über den Verdacht in der Gefängniszelle das Leben nimmt. Es ist ein Buch über die Seelenlage Sardiniens. Flavio Soriga sagte in einer Rezension, das Buch habe nicht Angioni geschrieben, sondern „das haben wir geschrieben, alle Sarden, eine ganze Insel, in den Jahren und in den Jahrhunderten, ohne uns darüber klar zu werden.“ In „Assandira“ (2004) geht es um die Wandlung sardischer Kultur zur Folklore (wobei ein Agriturismo, ein Bauernhof, auf dem man Ferien machen kann, durch Brandstiftung zerstört wird). In „Doppio Cielo“ (2010) beschreibt der Autor, wie ein junger Mann aus einem sardischen Dorf in die gerade gegründete Bergarbeiterstadt Carbonia mit ihren von allen Seiten Italiens zusammen gewürfelten Menschen kommt. Zuletzt war der historische Roman „Sulla faccia della terra“ (2015) über eine gesellschaftliche Utopie erschienen.

Die Landschaft im Herzen

Angioni lag der Umgang mit Landschaft am Herzen. Bei einem Gespräch in seiner Wohnung auf dem Kastellhügel von Cagliari sagte er einmal: „Wir Sarden identifizieren uns mit Landschaft. Ich denke, dass jeder Sarde eine Landschaft der Insel auch auf einer zerrissenen Fotografie wieder erkennen kann. Ganz selten, dass wir uns irren. Deshalb ist es wichtig ist, soviel wie möglich von der Landschaft zu erhalten und sie nicht im Namen einer chaotischen Moderne oder eines banalen Badetourismus zu verletzen. Das ist für einige von uns zu einer Art Schlachtruf geworden. Zumal die dünne Besiedelung der Insel, der Umstand, dass es so viele Räume gibt, die menschenleer sind, jeden Durchschnittseuropäer noch heute beeindruckt. Wenn ich nachts mit dem Flugzeug über die Insel fliege, sehe ich von oben riesige dunkle Flecken, wie kaum noch anderswo. Dieses Dunkel und auch dieses Schweigen, das möchte ich bewahren.“

Giulio Angioni ist am Morgen des 12. Januar in Cagliari nach einer kurzen Krankheit im Alter von 77 Jahren gestorben.