„DIE MILCH DER TRÄUME“


Die 59. Internationale Kunstaustellung Venedig steht unter dem Titel „The Milk of Dreams“. Anregend und zugleich zukunftskritisch dreht sich die Hauptausstellung mit Arbeiten von vor allem Künstlerinnen um das Thema der Verwandlungen. Unter den 80 nationalen Beteiligungen bleibt der Pavillon Russlands geschlossen, den deutschen bespielt Maria Eichhorn.

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Ohne Blickkontakt: Mit Brick House, 2019, von Simone Leigh (USA) werden Besucher bei der Hauptausstellung der Biennale 2022 im Arsenale empfangen. Die afromerikanische Künstlerin wurde auch mit einem goldenen Löwen ausgezeichnet.

Venedig (Arsenale/Giardini della Biennale bis 27.11.) Es sind ganz unterschiedliche Eindrücke, die ein Rundgang durch die Hauptausstellung der 59. Kunstbiennale vermittelt. Gleich am Anfang in der ehemaligen Seilerei des Arsenale sieht man sich einer riesigen schwarzen Bronzestatue einer afrikanischen Frau ohne Augen gegenüber („Brick House“). Die Basis dieser Arbeit der afroamerikanischen Künstlerin Simone Leigh erinnert an eine kuppelförmige Lehmhütte. Etwas später wird man mit der prallen Sexualsymbolik im monumentalen surrealistischen Wandgemälde „Pisser Triptych“ der Schweizerin Louise Bonnet konfrontiert. Unter der Eingangskuppel des zentralen Pavillons der Giardini thront superrealistisch das bekannte, rund 4 Meter hohe Abbild einer Elefantin von Katharina Fritsch. Die 66jährige Künstlerin aus Essen wird in diesem Jahr gemeinsam mit der Chilenin Cecilia Vicuña mit einem goldenen Löwen für das Lebenswerk ausgezeichnet. Ein paar Räume weiter kann man einer Tanzperformance unter der Anleitung der Rumänin Alexandra Pirici beiwohnen.

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Imposant: Katharina Fritsch „Elephant“, 1987 (420x160x380)

„The Milk of Dreams“ („Die Milch der Träume“) ist der Titel der Hauptausstellung der 59. Kunstbiennale von Venedig, die Cecilia Alemani verantwortet.  Er bezieht sich auf den gleichnamigen surrealistischen Roman der 2011 verstorbenen britisch-mexikanischen Künstlerin Leonora Carrington, in dem die Vorstellungskraft immer neue Verwandlungen, neues Leben hervorbringt. Cecilia Alemani ist 1977 in Mailand geboren, lebt aber seit 20 Jahren in New York, wo sie unter anderem als Chefkuratorin das Kunstprogramm der High Line Art verantwortet. Das alte Thema der Metamorphosen der Körper spiegelt sie auf das Heute: „Wie verändert sich die Definition des Menschen? Was sind die Unterschiede zwischen Pflanzen, Tieren, Menschen und anderen Lebewesen? Welche Verantwortung tragen wir gegenüber unseren Mitmenschen, anderen Lebensformen und dem Planeten, den wir bewohnen? Und wie würde das Leben ohne uns aussehen?“ Aus diesen Fragen heraus und aus feministischen Ansätzen des Posthumanismus etwa der Philosophin Rosi Braidotti  hat die Kuratorin zusammen mit rund 210 Künstlerinnen und Künstlern eine Ausstellung konzipiert, in der 1433 Werke und Objekte gezeigt werden – darunter 80 Arbeiten, die extra für diese Biennale entwickelt wurden.

© Andrea Avezzù, Courtesy La Biennale di Venezia

Cecilia Alemani, geboren 1977 in Mailand, lebt in New York.

Besucherinnen und Besucher müssen also eine gewisse Kondition mitbringen, wenn sie sich auf den Weg durch die Ausstellung machen. Es sind auffallend viele nicht-weiße Künstlerinnen und Künstler vertreten, die, wenn sie gelegentlich auch in westlichen Kunstzentren leben, doch aus eher peripher gelegenen Ländern stammen. 180 von ihnen waren noch nie in Venedig vertreten. Diese Biennale bedient nicht die Stars der Szene, sondern sucht nach neuen Entwicklungen eher in Nischen und Schattenzonen. Aus Deutschland sind u.a. mit Unterstützung des Instituts für Auslandsbeziehungen (IFA) Cosima von Bonn, Jana Euler und Charline von Heyl dabei. Neben dem Überblick über aktuelle Produktionen sucht die Hauptausstellung in fünf verschiedenen sogenannten Zeitkapseln zugleich eine Anbindung an die Vergangenheit und gibt so der Biennale eine Möglichkeit, über ihre eigene Geschichte nachzudenken. Da trifft man zum Beispiel Carol Rama, Louise Nevelson oder Rebecca Horn wieder.

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Zwischen lächerlich und subversiv – Arbeiten der Frankfurterin Jana Euler: 111 Keramik Haifische, im Hintergrund das Gemälde „Great White Fear“, 2021

Nach der Schweizerin Bice Curiger 2011 und der Französin Christine Macel 2017 ist die Italienerin Cecilia Alemani erst die dritte Frau, die eine Kunstbiennale verantwortet. Auf die Bemerkung, dies sei eine „Biennale der Frauen“, weil in ihrer Ausstellung 190 Künstlerinnen vertreten seien aber nur 20 Künstler, reagiert sie gelassen: Habe man je bei früheren Ausgaben von einer „Biennale der Männer“ geredet, weil regelmäßig die männlichen Künstler in der Mehrzahl waren?

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Der zentrale Pavillon der Biennale in den Giardini mit den Skulpturen der Kölnerin Cosima von Bonin „What if it Barks 4“, 2018, auf dem Dach und im Vordergrund

Die Vorbereitung war ein Hindernislauf. Im Januar 2020 wurde Alemani berufen, im folgenden März brach die Pandemie aus, im Mai wurde beschlossen, die Kunstbiennale von 2021 auf 2022 zu verschieben. So blieb ihr einerseits mehr Vorbereitungszeit, anderseits konnte sie wegen der Pandemie nur wenig nach Asien, Afrika oder Südamerika reisen und direkten Kontakt mit Kunstschaffenden aufnehmen, was durch stundenlange Zoom-Sitzungen ausgeglichen werden musste.

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Nichts für zarte Seelen: Tod einer Zentaurin im dänischen Pavillon, Arbeiten von Uffe Isolitto „We Walked the Earth“, 2022

Neben der Hauptausstellung bilden die nationalen Pavillons in den Giardini, dem Arsenale und teilweise verstreut im Stadtgebiet Venedigs den traditionellen zweiten Schwerpunkt der Biennale. Diesmal sind 80 Staaten vertreten, darunter zum ersten Mal Kamerun, Namibia, Nepal, Oman und Uganda. Vielfalt ist garantiert: Im Pavillon der Vereinigten Staaten trifft man wieder auf Simone Leigh. Sie ist die erste Afroamerikanerin, die ihr Land repräsentieren darf. Der französischen Pavillon beherbergt eine Art Filmstudio, der italienische eine aufgelassene Fabrik. Schockiert realistisch finden in dem dänischen eine Familie von Zentauren den Tod. Der britischen Pavillon zeigt die beeindruckende Darbietung fünf schwarzen Sängerinnen auf Großbildschirmen. Der Beitrag aus der Schweiz der Marokkanerin Latifa Echakhch bietet aus Altmaterial geformte Riesenkörper in ein wechselndes Licht getaucht, das sie wie eine Melodie umspielt.

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Aus dem Kriegsgebiet nach Venedig in den Pavillon der UIkraine: „The Fountain of Exhaustion“, 1996/2022, von Pavlo Makov (rechts im Interview)

Gut besucht war bei der Vernissage der eher versteckt im zweiten Stock eines Nebengebäudes im Arsenale eingerichteten Pavillon der Ukraine. Der Künstler Pavlo Makov aus Charkiv präsentiert hier eine neue, allerdings unvollständige Version seiner Installation „Fountain of Exhaustion“ (Brunnen der Ermattung). Nicht alle Kupferelemente, die mit kleinen Trichtern die Arbeit formen, konnten aus dem umkämpften Gebiet nach Venedig gebracht werden. Der russische Pavillon bleibt dagegen verschlossen. Nach dem Überfall russischer Truppen auf die Ukraine hatten sich das für die Ausstellung ausgewählte Künstlerpaar Alexandra Sukhareva und Kirill Savchenkov zusammen mit ihrem Kurator aus Protest gegen die Regierung in Moskau zurückgezogen.

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Blick in historische Tiefen: der deutsche Pavillon, bespielt von…  

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… Maria Eichhorn, die architektonische Schichten verschiedener Zeiten frei legt.

Der deutsche Pavillon schließlich sprüht nicht gerade vor Überraschung: Er beschäftigt sich wieder einmal mit sich selbst. Mehrere Künstlerinnen und Künstler haben sich bereits bei früheren Biennalen mit der Geschichte dieses Baus aus der Zeit des Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Anne Imhof ließ 2017 den abgezäunten Pavillon von Dobermännern bewachen, Christoph Haacke zertrümmerte 1993 den Travertinboden zu einem Haufen von Steinplatten. In diesem Jahr arbeitet sich die Berliner Künstlerin Maria Eichhorn an ihm ab. Sie legt Teile des Fundaments frei und zeigt u.a. wo früher Türdurchbrüche und Fensteröffnungen in den Wänden waren. Vielleicht hätte man Maria Eichhorn besser für die nächste Architekturbiennale einladen sollen. Sie macht deutlich, wie das Gebäude 1909 zunächst als bayrischer Pavillon entstand. 1912 wurde der in den deutschen umbenannt, dann 1938 aber in Naziformen radikal umgestaltet. Um an diese Geschichte zu erinnern, werden jetzt vom Pavillon aus zweimal wöchentlich Ausflüge an venezianische Ort des antifaschistischen Widerstands angeboten.

Aber während sich die Arbeiten der Hauptausstellung „Die Milch der Träume“ wie viele Nationalbeiträgen dieser Biennale ­– zugegeben oft surrealistisch – mit Fragen des Zusammenlebens und auch des Überlebens auf diesem Planenten beschäftigen, denkt man in Deutschland in einer Art Endlosschleife an die Aufarbeitung der Vergangenheit. Aus Angst vor der Zukunft?

59 . Internationale Kunstausstellung Biennale Arte 2022 „The milk of dreams“, kuratiert von Cecilia Alemani. Venedig (Giardini, Arsenale, Forte Marghera), dazu 80 nationale Beteiligungen, 23.4. bis 27.11. Geöffnet Di – So 11-19 Uhr, Mo geschl. (außer 25.4., 30.5. 27.6.). Eintritt 25 Euro (20 Euro over 65, 16 Euro Studenten bzw. under 26). Katalog (ital. oder engl.) 90 Euro, Kurzführer 18 Euro. Info und Tickets: www.labiennale.org. Info Covidregeln: www.dgc.gov.it/web/

 Maria Eichhorn: Relocating a structure. Deutscher Pavillon 2022. Katalog (engl., deut., ital.) hrsg. von Yilman Dziewior, Verlag Buchhandlungen König, Köln 29,80 Euro. Ergänzend finden Stadtführungen zu Orten der Erinnerung an den antifaschistischen Widerstands in Venedig zwei Mal wöchentlich statt. Info: www.deutscher-pavillon.org/

 

Die Preise: Ausgezeichnet wurde der britische Pavillon mit einem goldenen Löwe für die beste nationale Beteiligung. Eine besondere Erwähnung ging an Frankreich und das zum ersten Mal vertretene Uganda. Simone Leigh (USA) erhielt den goldenen Lösen für die beste Einzelbeteiligung, der Libanese Ali Cherri wurde mit einem silbernen Löwen als bester Nachwuchskünstler geehrt. Eine besondere Erwähnungen wurde gegenüber Lynn Hershman Leeson (USA) und Shuvinai Ashoona (eine Inuk aus Kanada ) ausgesprochen. Die deutsche Katharina Fritsch und die Chilenin Cecilioa Vicuña erhielten je einen goldenen Löwen für die Karriere.

Ein kürzere Fassung dieses Beitrags über die Biennale 2022 ist in der Stuttgarter Zeitung / Stuttgarter Nachrichten am 23.4. erschienen

Weitere fotografische Eindrücke:

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Duftend – Delcy Morelos (Kolumbien): „Inner Earth“, 2018,  (Erde, Heu, Mehl, Kakao, Gewürze)  

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Fragend – Emma Talbot (Großbritannien): „Where Do We Come From“ (Ausschnitt), 2021 

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Blitzend – Wu Tsang (USA, lebt in Zürich): „Of Whales“, 2022 (Video und Wasserspiegelung im Arsenale)