Der Krimi „Groll“ von Gianrico Carofiglio, der sich mit der Ermittlerin Penelope Spada ein weibliches Alter ego geschaffen hat.
Mailand – Staatsanwalt, Politiker, Fachbuchautor, Kampfsportler: Gianrico Carofiglio, 1961 in Bari geboren, ist in seinem Leben bereits in viele Rolle geschlüpft – und hat sie wieder verlassen. Seit Jahren feiert der Intellektuelle und gesellschaftlich kritisch engagierte Schriftsteller auch im deutschen Sprachraum Erfolge mit seinen Kriminalromanen. Im Folio-Verlag ist gerade der Titel „Groll“ erschienen. Darin geht es um den unerwarteten Tod eines bekannten Chirurgen und Professors der Medizin. Ein natürlicher Herzinfarkt, wie von ärztlicher Seite bestätigt, oder ein Verbrechen, wie die Tochter des Verstorbenen vermutet? Widerwillig nimmt die private Ermittlerin Penelope Spada sich dieses Falles an.
Für den deutschen Leser und Kenner der Romane von Gianrico Carofiglio ist „Groll“ eine zweifache Überraschung. Der Erzähler etwa der Reihe des Avvocato Guido Guerrieri oder der des Maresciallo Pietro Fenoglio leiht seine Stimme einer Frau. Und was für eine! Penelope Spada, eine ehemalige Staatsanwältin, Single, selbstsicher und zugleich von Schuldgefühlen einer rätselhaften Vergangenheit zerrissen, die sie mit Jack Daniels oder sportlichen Exzessen zu betäuben versucht; ihren Unterhalt verdient sie sich durch private Ermittlungen. Italienische Leser hatten sie bereits im ersten, bislang nicht übersetzen Band dieser Reihe (?) „La disciplina di Penelope“ (Mondadori 2021) kennengelernt. Mit ihr hat sich der Autor, Träger eines schwarzen Gürtels in Karate, ein weibliches Alter ego geschaffen.
Und auch der Schauplatz wechselt. Es ist nicht mehr seine vertraute süditalienische Heimatstadt Bari, sondern die hektische, oft regnerische norditalienische Metropole Mailand. Grobschlächtige Inszenierungen mit wilden, die Spannung vorantreibenden Szenenwechseln waren noch nie die Sache das Autors. Das eher unpersönliche, coole, international geprägte Mailand dient ihm als Folie, die Kunst anzuwenden, die er seit seinen Studientagen ausgebaut und verfeinert hat: die Kunst des Fragens als Methode der Kriminalistik wie der Prozessführung. Und es ist wohl auch kein Zufall, dass „Groll“ (italienisch „Rancore“, Einaudi 2022) parallel zu seiner Lehrtätigkeit an der Universität Bologna (Sitz Ravenna) mit einem Seminar über „Grundlagen juristischer Sprache und Schrift“ entstanden ist.
Dostojewskischen Spannungen
Doch mit einer Seminararbeit hat dieser Krimi nichts zu tun. Eher mit psychologischen, gleichsam dostojewskischen Spannungen, in die Penelope Spada auch durch eigene Fehler verstrickt ist und aus denen sie sich schließlich zu lösen weiß. So umkreist der Leser mit ihr die Fragen von Schuld und Sühne, nach möglichen Tätern oder Täterinnen, nach Motiven und Hintergründen. Man taucht auch in ein politisch-gesellschaftliches Panorama ein, in das individuelle Gefühle und Handlungen eingebunden sind. Unabhängig von der selbstverständlich am Ende zu lösenden Frage, ob der Tod des Chirurgen natürlich war oder nicht.
Zur flüssigen und in vielen Passagen einfühlenden Übersetzung von Verena von Koskull nur eine Petitesse: Was ist das für eine „Gerichtspolizei“, die, so die Überlegungen von Penelope, zusammen mit der Staatsanwaltschaft unter bestimmten Umständen Voruntersuchungen einleiten kann? In Italien gibt es etwa im Gegensatz zum deutschen Sprachraum mehrere eigenständige Polizeikörperschaften für die Verfolgung von Straftaten. Die beiden wichtigsten (und nicht selten in Konkurrenz auftretenden) sind die Staatspolizei und Carabinieri. Carofiglio benutzt im Original den Begriff „polizia giudiziaria“. Das ist die abstrakte Benennung der Gesamtheit aller polizeilichen Körperschaften der Strafverfolgung in Italien – und keine Bezeichnung einer eigenständigen „Gerichtspolizei“, wie die irreführende wortwörtliche Übersetzung suggeriert. Auf Deutsch würde man schlicht von „Kriminalpolizei“ reden.
Gianrico Carofiglio: Groll. Krimi. Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Folio Verlag, Wien/Bozen (2023). 239 Seiten, 25 Euro
Siehe auf Cluverius auch der Roman „Drei Uhr morgens“, der den Autor erfolgreicher Kriminalgeschichten von einer anderen Seite zeigt.