Ein Gespräch mit Shaul Bassi über Shakespeare, die Juden und den „Kaufmann von Venedig“
Venedig – Er ist der venezianische Jude schlechthin, auch wenn er nie existiert hat: Shylock aus Shakespeares Drama „Der Kaufmann von Venedig“. In der Ausstellung „Venezia, gli Ebrei e l’Europa 1516 – 2016“, die im Palazzo Ducale an die Gründung des Ghettos vor 500 Jahren erinnert ist, darf er nicht fehlen. Der Anglist Shaul Bassi von der Universität Ca’ Foscari, ein Mitglied der jüdischen Gemeinschaft Venedigs, ist für diesen Teil der Ausstellung verantwortlich. Im Interview äußert sich der 46jährige Wissenschaftler zum Thema.
Das Stück – ein „Rachethriller“
Anlass des Gesprächs ist auch, dass Shakespeares Stücke 400 Jahre nach dem Tod des Autors1616 überall auf italienischen Bühnen gespielt werden. Das Teatro Stabile del Veneto Carlo Goldoni veranstaltet ein kleines Festival mit Inszenierungen etwa von „Julius Caesar“ und „Romeo und Julia“. Dazu gehört am 20. Juli eine szenische Lesung von „The Merchant of Venice“ in englischer Sprache von Darstellern des King’s Theatre aus Portsmouth. Der Abend findet im Hotel Danieli (mit anschließendem Cocktail Dinner) statt. Anschließend wird es zu einem Freilichtauftritt auf dem Campo del Ghetto kommen (26. bis 31. Juli). Eine italienische Inszenierung von „Il Mercante di Venezia“ unter der Regie von Paolo Valerio eröffnet die Spielzeit des Teatro Goldoni dann im Oktober.
Das Stück gilt als ein „Rachethriller“ – so heißt es in einem Rundfunkbeitrag – über einen Juden, der einem Christen Geld borgt und als dieser zahlungsunfähig wird, „das Messer wetzt,“ weil der Vertrag, den sie abgeschlossen haben, dem einen das Recht gibt, dem anderen ein Stück Fleisch „aus dem Leib zu schneiden“. Deshalb die Frage an Shaul Bassi:
Ist es für das Stück, das um das Jahr 1600 entstanden ist, wichtig, dass Shylock ein Jude aus Venedig ist, oder hätte er auch ein Jude aus Amsterdam sein können?
„Ich glaube, es ist wichtig, dass Shylock ein Jude aus Venedig ist. Vorausgesetzt man weiß, dass es sich um eine erfundene jüdische Figur handelt. Ein erfundener Jude, aber es könnte kein Jude aus Amsterdam sein. Die Beziehungen, die es zwischen Shylock und den anderen Figuren im Stück gibt, spiegeln die Beziehungen zwischen Bürgern und Ausländern wider, die typisch waren für das Venedig jener Zeit. Shakespeare und die Engländer waren davon fasziniert.“
Juden und Christen brauchen einander
Was zeichnete diese Beziehungen aus?
„Natürlich hat Shakespeare sie nicht persönlich erlebt und nur durch Bücher oder Erzählungen erfahren. Aber das war ein Verhältnis auf einer höchst pragmatischen Grundlage. Die Vorstellung nämlich, dass Juden und Christen im Grunde einander nicht lieben, aber wissen, dass die einen die anderen brauchen. Und sich so Beziehungen langfristig konsolidieren können. Ich glaube, das gehört zur Aktualität des Werkes. Es zeigt uns, dass Zusammenleben nicht auf der Basis von guten Gefühlen, sondern auf der des gegenseitigen Nutzens, der Notwendigkeit aufbaut. Dabei stellt sich ein Problem: Denn wenn der Jude gestern, der Fremde heute und wer weiß welch Anhänger einer Minderheit morgen nicht mehr gebraucht wird, dann kann man ihn leicht ausgliedern.“
Welche Rolle kann Shylock in der historischen Ausstellung über die Juden und Venedig spielen?
„Im Vorfeld zu den Veranstaltungen, die an die Gründung des Ghettos vor 500 Jahren erinnern, haben wir uns gefragt, ob es sinnvoll ist, in einer historischen Ausstellung eine nichthistorische Person einzubeziehen. Aber gerade Venedig war immer auch ein Ort, in dem die Vorstellung und die Imagination seine Realität überstieg. Geschichten über Venedig sind fast ebenso wichtig wie seine Bauwerke. Die Ausstellung über 500 Jahre Ghetto stellt unter den wirklich gelebten Juden berühmte und weniger berühmte Persönlichkeiten dar. Aber man kann einen Shylock nicht ausschließen, der der bekannteste Jude aller Zeiten in Venedig bleibt, auch wenn es ihn nie gegeben hat.“
Seitdem es das Stück „Der Kaufmann von Venedig“ gibt, streitet man darüber, ob es vor allem antisemitisch sei oder doch zuerst das Verhältnis von Recht und Gnade widerspiegele.
„Es hat beide Seiten. Die Handlung enthält sicher antisemitische Elemente und damit muss man sich auseinander setzen. Aber es ist auch eine Geschichte, die Keime für das Verständnis davon enthält, wer die Juden sind. Und wie im Allgemeinen Mehrheiten und Minderheiten miteinander umgehen sollten.“
Geschichten unserer Gegenwart
Wie aussagekräftig zeigt sich das Bild von Venedig im Stück?
„Shakespeare ist immer aktuell, weil er ein Autor ist, der von seiner Zeit und seinem Ort ausgeht, um Geschichten anderer Zeiten und anderer Orte zu erzählen. Wenn wir Shakespeare studieren würden, um etwas über das England seiner Zeit zu erfahren, hätte das kaum mehr als ein historisches Interesse. Wenn wir die in Venedig oder Dänemark angesiedelten Werke studierten, um grundsätzlich etwas über Venedig oder Dänemark zu erfahren, bliebe die Erkenntnis begrenzt. Es ist dagegen interessant zu sehen, wie sich die Geschichten in Zeit und Raum aktualisieren. Sie sind auf eine gewisse Weise unsere Gegenwart.“
Wie der Kaufmann von Venedig?
„Höchst aktuell, weil der Kaufmann von Venedig eine Gesellschaft beschreibt, in der das Geld die Beziehungen dominiert. In der das Recht scheinbar für alle gleich ist, und es doch bemerkenswerte Unterschiede gibt. In der die Gnade, die nach christlichem Vorbild bedingungslos sein sollte, eine Gnade ist, die von vielen Bedingungen, auch von ökonomischen, abhängt.“
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Zur Ausstellung „Venezia, gli Ebrei e l’Europa“ findet man auf Cluverius den Beitrag „Aus allen Himmelsrichtungen“ sowie zur Erinnerung an die Gründung des Ghettos vor 500 Jahren das Interview mit Romedio Schmitz-Esser „In gewisser Weise war Venedig auch ein toleranter Ort“ und das Hintergrundstück „Verwinkelte Gänge“
Info zum kleine Sommerfestival des Teatro Stabile del Veneto: http://www.teatrostabileveneto.it
Zum „Kaufmann von Venedig“ siehe auch die spannende Sendung „Wer hat Angst vor Shakespeares Shylock“ von Dagmar Just auf Deutschlandradio Kultur (29.4.2016)