Briefe aus der Quarantäne


MIT LACHENDEN AUGEN

Mailand öffnet sich vorsichtig nach dem Lockdown,  farbtrunken wandert man durch Straßen und Parks – ein Nachtrag zu den Briefen aus der Quarantäne

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Eine erste wiedergefundene Freiheit - Giardini Pubblici in Mailand am Tag eins der vorsichtigen Öffnung nach sechs Wochen Quarantäne

Mailand (5. Mai) – Alles neu macht der Mai. Seit gestern, Montag 4.5., dürfen wir wieder durch die Stadt laufen – und nicht nur 200 Meter von der Haustür entfernt. Auch die Parks wurden wieder geöffnet. Eine Symphonie in Grün breitet sich vor blauem Himmel aus. Dunkelgrün die Kastanien, die bereits ihre weißen Blütenstände aufgesetzt haben, die wie Zwergtannen auf den Ästen thronen. Buschwerk glänzt zwischen Zartgrün und Blaugrün. Der Hunde-Campus in den Giardini Publici leuchtet nach sechs Wochen „ohne“ in einem nie gesehenen satten Wiesengrün. Gras sprießt auf vielen Wegen. Grünlich schimmernd das Brunnenwasser vor der Villa Dugnani. Im neu angelegten Park an der Porta Nuova, der sogenannten Biblioteca degli Alberi, breiten sich Blumenfelder aus, in denen Iris und Mohn, Kornblumen und Löwenzahn  (gewollt) wild Gelb, Rot, Blau, Weiß durch einander blühen. Farbtrunken wandert man durch die Stadt, so als hätte man sie nie gesehen. Und hinter den Masken der Passanten lachen die Augen.

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LASST MICH INS OFFENE, FREUNDE!

Briefe aus der Quarantäne (13 und Schluss):  Die Schwalben sind da, Träume an frischer Luft, Bassani und Bella Ciao auf dem Balkon

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Was tun, wenn alles vorbei ist? Bis dahin ein Sehnsuchtsbild

Mailand (17. April) – Freitag nach Ostern, der vierzigste Tag im Ausnahmezustand. Zu Zeiten der Pest hätte jetzt die Quarantäne geendet. Doch bei Corona muss ich mich weiterhin mit minimalen Freigängen zufrieden geben. Immerhin heute Morgen, beim verlängerten Rückweg vom Zeitungskiosk, haben mir die Zeitläufe und das herrliche Wetter ein Geburtstagsgeschenk gemacht: die Schwalben sind zurück! Hoch oben am Himmel schossen sie an der Ecke zur Via Settala durch die Luft, gut zu erkennen am gegabelten Schwanz. Bald werden sie unter den Dachüberständen ihre Nester beziehen und mit Sri-Rufen nach Futter für den Nachwuchs jagen.  Derweil bleibt die Lombardei – die „Schwester Schwabens“ nennt Hölderlin sie – mit bis heute 11.600 Toten die am stärksten betroffene Region Europas. Gestern starben wieder 231 Menschen.

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KEIN LAMM ZU OSTERN

Briefe aus der Quarantäne (12): Schweigen und Natur, Europa und Solidarität,  Himmelstürme und Heilslinien

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Magisch - Installationen von Anselm Kiefer im Hangar Bicocca

Mailand (11. April) – Sonnabend vor Ostern, der fünfunddreißigste Tag im Ausnahmezustand. Eine Quarantäne, das sind 40 Tage, doch diese wird länger andauern: bis zum 3. Mai mindestens, so gestern die Ankündigung der italienischen Regierung. Die Zahl der Toten in der Lombardei hat die 10.000 überschritten, im Großraum Mailand sind es fast 2000. Gestern Abend, Karfreitag, konnte man auf der Facebook-Seite des Rossini Opera Festivals einer wunderschönen Aufführung von Rossinis „Stabat Mater“ aus dem Jahr 2015 (Dirigent Michele Mariotti) beiwohnen. Leider läuft das Streaming nur 24 Stunden bis heute am späten Nachmittag. In den Schlachtereien meines Viertels ist Lammfleisch seit dem frühen Morgen ausverkauft. Bei der Esselunga – Wartezeit heute in der Schlange 60 Minuten – gibt es nur Importware aus Neuseeland, Belgien oder Spanien. Wir werden mit Ricotta gefüllte Ravioli, Artischocken und zum Nachtisch Colomba essen. Das Lamm kommt auf die immer länger werdende Liste dessen, was wir in der Zeit "danach" nachholen wollen.

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EIN GARTEN VOLL KRAUT UND UNKRAUT

Briefe aus der Quarantäne (11): Debatten um Europahilfen und Stichworte zur Lage der Nation von Paolo Rumiz, Adriano Sofri und Johann Gottfried Herder

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Italiener zeigen Flagge. Um Ärtzte und Pflegepersonal zu stützen - und um als Gemeinschaft zusammen zu rücken

Mailand (6. April) – Montag, der dreißigste Tag im Ausnahmezustand. Der Coronavirus greift Europa an. Die Repubblica veröffentlicht heute eine Umfrage, nach der nur noch 30 Prozent der Italiener Vertrauen in die EU hätten. Die Debatte um die ökonomischen Hilfen droht zu einem Religionskrieg um die sogenannten Eurobonds zu werden. Die reichen Deutschen, die arroganten Nordeuropäer gegen notleidende Italiener und ganz Südeuropa. Lässt der Norden den Süden im Stich?

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BUNTE MASKEN, SCHWARZE TÜCHER

Briefe aus der Quarantäne (10): Die Mundmaske als Placebo und Raffaels Tod in Zeiten von Corona

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Vom Todesjahr rückwärts gerechnet - Aufgang zur Raffael-Ausstellung in Rom (Scuderie del Quirinale), die zurzeit geschlossen ist.

Mailand (5. April) – Palmensonntag, der neunundzwanzigste Tag im Ausnahmezustand. Jetzt heißt es Masken tragen. Oder zumindest ein Tuch, einen Schal vor Mund und Nase halten, wenn man nach draußen geht. Das ist die jüngste Verordnung der Region Lombardei. Ob es etwas nützt? Bei den (wenn überhaupt) erhältlichen Masken ist die Wirkung, was den Schutz vor Ansteckung angeht, höchst umstritten, bei Tüchern oder Schals sogar witzlos. Aber wer sich nicht daran hält, wird in der Schlange vorm Supermarkt böse angeguckt. Massimo Gramellini hat gestern in seiner Rubrik „Il Caffè“ im Corriere della Sera weise von seiner „mascherina-placebo“ gesprochen. Er setze sie nur in Gegenwart von anderen auf, „um mir einzubilden, dass sie mich wenigstens vor ihren Urteilen schützt.“

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IM LAND DER TRÄUME

Briefe aus der Quarantäne (9): Kulinarisch und literarisch unterwegs in Italien. Und Corona zum Trotz abends in die Scala – oder lieber ins Elfo?

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Teatro Elfo Puccini in Mailand - Aufführungen gibt es nur online

Mailand (2. April) – Donnerstag, der sechsundzwanzigste Tag im Ausnahmezustand. In der Via Boscovich blühen die ersten Fliedersträuche. Zum Frühstück gab es Erdbeeren aus der Basilicata, die auch wie frische Erdbeeren schmecken, süß, aromatisch mit leichter Säure am Ende. Zu Mittag steht Risotto mit jungem grünen Spargel auf dem Kochplan. Spargel aus Salerno. Das ist zwar keine „Null-Kilometer-Ware“, aber immerhin alles Italien. Der Reis, natürlich Carnaroli, kommt derweil von hier aus der Lomellina. Dazu ein Glas Rotwein, leicht und spritzig aus dem Piemont, Barbera di Monferrato etwa.

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WEDER DUMMKÜHN NOCH FRECH

Briefe aus der Quarantäne (8): Blühende Bäume, schreckliche Vorstellungen und Botschaften aus der Reformationszeit

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Gepflegtes Grün auch in der Coronazeit - Mailand bei der Porta Venezia

Mailand (30. März) – Montag, der dreiundzwanzigste Tag im Ausnahmezustand. Sonnenschein wechselt mit Regen, der Frühling hat begonnen. Morgen, Dienstag, sollen die Temperaturen wieder sinken, es könnte sogar schneien. Der April und das Aprilwetter stehen vor der Tür. Die Grasflächen unter den blühenden Bäumen bei der Porta Venezia, die man auf dem Weg zum Supermarkt passiert, wurden diese Woche geschnitten und gesäubert. Es tut gut zu sehen, dass die Stadt sich auch in der Krise pflegt und auf ihr grünes Kleid hält. Dabei hätte sie allen Anlass, Trauer zu tragen.

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EIN HÄUFCHEN MUTIGER MÄNNER

Briefe aus der Quarantäne (7): Es wird immer stiller, man hört Musik und nimmt Fäden zur Vergangenheit auf

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Von allen guten Geistern verlassen? - Kirche San Gregorio Magno in Mailand über dem Friedhof des ehemaligen Lazarettes errichtet. Gregorius lebte von 540 - 604,  war Papst (Gregor I.) und Biograph von Benedikt von Nursia. 1295 wurde er heiliggesprochen

Mailand (22. März) – Sonntag, der fünfzehnte Tag im Ausnahmezustand. Eine gespenstische Ruhe liegt über der Stadt. Die Schlangen vor der Esselunga in dem Viale Piave werden länger. Heute Morgen hatte ich noch Glück – nur etwa 25 Minuten Wartezeit. In den Medien hört man von abenteuerlichen Schlangebildungen in Italien bis zwei Stunden und mehr. Und die Gesichter werden ernster. Zunächst war das Anstehen vor dem Supermarkt Gelegenheit für einen Schwatz, einen Scherz mit anderen – immer Abstand wahrenden – Wartenden. Heute herrscht Stille auch in der Schlange. Immer mehr Menschen sterben. In der Lombardei sind es inzwischen über 3000, gut 1000 allein in den vergangenen drei Tagen.

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ZWISCHEN ANGST UND BEKLEMMUNG

Briefe aus der Quarantäne (6): Das Frühlingswetter und der Nebel der Betäubung

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Zu schönes Wetter, um zu Hause zu bleiben - neuer Mailänder Park im offenen Gelände

Mailand (18. März) – Mittwoch, der elfte Tag im Ausnahmezustand. Im Deutschlandfunk höre ich: Der Präsident des Weltärzteverbandes Frank Ulrich Montgomery hält Ausgangssperren für kein geeignetes Mittel im Kampf gegen Coronavirus. Italien habe gezeigt, dass das nicht funktioniere. Man schüttelt nur noch mit dem Kopf. Gerade Italien zeigt, dass es funktioniert.

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Heldinnen und Helden

Briefe aus der Quarantäne (5): Zwischen der Routine im Alltag und der dramatischen Lage in den Krankenhäusern

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Das Foto, das Italien bewegte: Krankenschwester in Cremona nach stundenlangem Einsatz

Mailand (16. März) – Montag, der neunte Tag im Ausnahmezustand. Sonnenschein. Langsam stellt sich eine Art Quarantäne-Routine ein. Im Bett morgens übers Handy den Deutschlandfunk hören. Dann duschen, anziehen während das Radio läuft, jetzt die Italiener, abwechselnd Radio Popolare und Rai tre. Raus an die frische Luft – noch nie war die Luft in Mailand so voller Duft, so morgenrein wie in diesen Tagen. Also durchatmen, Zeitung kaufen und mit Massimo, dem Kioskbesitzer, ein paar Worte wechseln. Zuhause der Caffè, den man so heiß wie möglich schlürft – dem Espresso der Bar nachtrauernd. Man wechselt das Zimmer, der Schreibtisch mahnt zur Disziplin.

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EIN UNAUFHÖRLICH LAUTES SINGEN

Briefe aus der Quarantäne (4): Jetzt werden auch die Parkanlagen verschlossen – es bleiben nur noch die Balkons

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Gesperrt - Zugang zu den Giardini Pubblici "Indro Montanelli"

Mailand (14. März) – Sonnabend, der siebte Tag im Ausnahmezustand. Nun darf man auch nicht mehr in die Parkanlagen. Die, die umzäunt sind, werden geschlossen. Wie die Giardini Pubblici bei der Porta Venezia. Der erste öffentliche Park Mailands, auf Bestreben von Vizekönig Ferdinand Karl von Österreich-Este 1784 eröffnet. Zu weiterhin „habsburgischer Disziplin“ ermahnen die Verantwortlichen ihre demokratischen Untertanen heute. Eine große Mehrheit unter ihnen scheint sich den Regeln zu fügen.

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BIS AUF WEITERES GESCHLOSSEN

Briefe aus der Quarantäne (3): Ein Leben ohne Bars und Restaurants

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San Carlo al Lazzaretto - Kirche für Pestkranke

Mailand (12. März) – Donnerstag, der fünfte Tag im Ausnahmezustand. Gerade ist die Müllabfuhr durch unsere Straße gefahren, wer das Schlafzimmer zur Straßenseite hat, benötigt keinen Wecker. In Mailand hört man, wenn der Tag beginnt. Das sonst morgendliche Rumoren der Stadt hat jedoch merklich nachgelassen. Keine fröhlichen Kinderstimmen mehr. Die Schule gegenüber ist schon seit über zwei Wochen geschlossen. Nach den allerneuesten Bestimmungen, die am Abend zuvor erlassen wurden, gelten die Schließungen nun auch für alle Läden – Ausnahme: u.a. Lebensmittel, Tankstellen –,  und ebenso für Restaurants und Bars. Kein Frühstückscaffè heute in Gesellschaft, zuhause wird die Mokkakanne aufgesetzt.

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RAGAZZI, BLEIBT ZUHAUSE!

Briefe aus der Quarantäne (2) - Ab heute ist ganz Italien im Ausnahmezustand vereint

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Nicht viel Arbeit - Stadtreinigung auf der Piazza Duomo

Mailand (10. März) – Dienstag, dritter Tag im Ausnahmezustand. Die Bar an der Ecke zur Via Tadino hat seit gestern ganz geschlossen. Pazienza – es gibt ja genügend Alternativen. Doch es wird nicht mehr am Tresen serviert, man bekommt seinen Caffè plus das kleine Glas Wasser an den Tisch gebracht. Immer schön Abstand halten zum Nachbarn, mahnt die blonde Maddalena, die serviert. Sie stammt aus Rumänien. Wie die Lage da ist? Noch harmlos. Kaum mehr als zehn, fünfzehn Fälle. Allein in der Lombardei, berichten die Medien, sind es 4490.

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DIE HAND GEBEN? NEIN DANKE.

Briefe aus der Quarantäne (1) - Die Lombardei mit Mailand wird zum Sperrgebiet erklärt

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Mailand - Stazione Centrale am Tag eins der Quarantäne für die ganze Region Lombardei

Mailand (8. März) – Sonntag Morgen, wie immer. Frühstück in der Bar mit Caffè (doppio), Brioche (ai cereali) und Zeitung (domenicale del sole24ore). Ravasi zitiert in seinem Breviario Shakespeare zum Weltfrauentag. Die Kinorubrik lobt Giorgio Dirittis Film „Volevo nascondermi“ über den Maler Antonio Ligabue (fünf von fünf Sternen). Schade nur, dass ich ihn nicht sehen kann.

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